Die Glaswand
Sophies Referat
Sophies Handy vibrierte auf dem Nachhauseweg. Anna wollte wissen, wann
sie sich treffen könnten. Was das bringen sollte wusste Sophie nicht.
Schließlich hatten beide keine Ahnung, wie sie das angehen sollten.
Genervt steckte sie ihr Handy weg, ohne zu antworten. Das konnte auch
warten. Schließlich hatten sie jetzt erst einmal Ferien. Sie war immer
noch wütend, dass ihr Geografielehrer ihnen dieses Referat in der
letzten Stunde aufgebrummt hatte, um ihnen die Ferien zu vermiesen.
Typisch Lehrer, als würden sie nicht wissen, dass Ferien auch Ferien
sein sollten.
Sie kam rein und ging gleich in ihr Zimmer und verstaute sorgsam ihre
Schultasche unter dem Schreibtisch, bevor sie in die Küche ging.
„Na mein Schatz“ Ihre Mutter war gut gelaunt und kochte Sophies Leibgericht.
Das munterte sie ein wenig auf. Mit einem hörbaren Seufzen ließ sie sich auf der Eckbank am Küchentisch nieder.
Ihre Mutter lächelte ihr zu und nickte in Richtung Schlafzimmer. Sophie schüttelte den Kopf und machte ihrem Frust Luft.
„Nicht, dass ich aus Versehen an Schule denken muss“, meinte Sophie und
lachte gespielt gequält. Normalerweise landete ihr Rücksack unweit der
Haustür in einem Eck, wenn sie aus der Schule kam.
„Hast ja jetzt auch Ferien“, besänftigte ihre Mutter Sophie.
„Sag das mal meinem Lehrer!“, antwortete sie und ließ ihren Ärger mit
einem „mhh lecker“ verfliegen, als ihre Mutter zwei Teller Spaghetti
auftischte und sich neben sie setzte.
Mit vollem Mund fragte sie ihre Mutter aus, was sie alles im Urlaub machen konnten.
Morgen früh war Abfahrt. Sie hatte aber noch Einiges zu packen. Dabei
galt es zwei Probleme gleichzeitig zu lösen – Auswahl treffen und alles
in den Koffer bekommen. Wer auch immer dieses Universum erschaffen
hatte, dachte Sophie, hätte für dieses Dilemma eine Lösung vorsehen
sollen.
Gegen sieben kämpfte sie sich mit ihrem Koffer die Treppe runter. Die
letzten fünf Stufen ging es schneller als beabsichtigt und sie war
erleichtert, als der Koffer nicht aufsprang, als dieser unten landete.
Es hatte einiges an Gewalt gekostet ihn zu schließen.
„Das klingt gefährlich“, lachte ihr Vater aus dem Wohnzimmer. „Lebst du noch?“
Sophie rollte den Koffer in den Flur, bevor sie zu ihm ging und sich der
Länge nach auf die Couch legte. Sie gab ein erschöpftes Seufzen von
sich, während ihr Vater im Sessel daneben ihr liebevoll den Rücken
kraulte und gleichzeitig fernsah.
„Man hat es schon schwer“, stichelte ihr Vater.
Brummend gab sie ihm recht.
Eine Weile sprach niemand. Ihr Vater schaute die Nachrichten, während
Sophie eigenen Gedanken nachging. Für die Probleme der Welt hatte sie
wenig übrig. Die Meisten davon waren ohnehin menschgemacht und Sophie
hatte noch nie verstehen können, wieso die Menschen so selten dämlich
sein konnten.
Ohne besonderes Interesse an dem, was sie sah, blickte sie dennoch in
Richtung der flimmernden Bilder. Sie sah Bilder von Krieg und
Zerstörung, Politiker die andere beschimpften böse zu sein und Opfer,
die nicht verstanden, was vor sich ging – Bilder, wie man sie jeden Tag
sah. Eben nichts was wirklich neu war.
Plötzlich kam ihr ein Gedanke, als sie einen dicken Mann sprechen sah, der den Eindruck erweckte wichtig zu sein.
„Papa?“ Vielleicht konnte er ihr helfen, schließlich kannte er sich mit
vielen Dingen aus, die ihr nicht wirklich sinnvoll erschienen.
„Mein Kind?“ Ihn interessierten die Nachrichten heute auch nicht, sonst hätte er den Kopf geschüttelt.
„Was ist Ökodumping?“
Ihr Vater war verwirrt. Er blickte sie verwundert an und wandte sich
dann einige Augenblicke dem Fernseher zu, als könnte er sich daran
erinnern, worauf Sophie ihre Frage bezog. Ihm fiel aber kein Beitrag
ein, der damit zu tun hatte.
„Wieso? Was soll damit sein?“
„Ach, Anna und ich sollen ein Referat darüber halten.“
Ihr Vater sah sie überrascht an.
Sie zuckte mit der Schulter.
„Ich glaube meinem Lehrer war langweilig.“
Er lachte amüsiert aber leise, um Sophie nicht zu kränken.
Er überlegte eine Weile. „Das ist eigentlich einfach.“ Er suchte nach einem Beispiel, mit dem er es erklären konnte.
„Aber das ist ein sehr ernstes Problem.“ Er machte den Ton vom Fernseher
aus. Es machte ihm Freude, wenn seine kleine Prinzessin sich für solche
Dinge interessierte. Früher hatte sie ihn immer mit Fragen gelöchert,
doch in letzter Zeit hatte das nachgelassen.
Umso mehr gab er sich nun Mühe, es ihr verständlich zu machen.
„Du weißt, was Dumpingpreise sind?“
„Das ist, wenn etwas ganz billig ist oder?!“
„Genau. Das ist, wenn ein Händler versucht den anderen im Preis zu
unterbieten, damit er die Produkte verkauft und nicht der Andere.“
„Aber dann kann der ja auch den Preis senken?“
„Genau und schon sind wir in einem Teufelskreislauf, wenn einer
unbedingt viel verkaufen möchte. Er senkt den Preis, der andere zieht
nach, dann senkt der eine wieder den Preis.“
„Aber das ist doch gut, dann bekommen wir die Sachen billig.“
„Ja, aber das ist nicht immer gut. Wir bekommen nämlich auch billige Sachen.“
„Sag ich ja und das ist doch gut.“
„Wie weit wird der Preis denn sinken?“
„Soweit wie es geht“, lachte Sophie und freute sich, während sie sich
das gute Geschäft vorstellte, das sie machte, wenn sie ein Schnäppchen
fand.
„Nun, erst einmal soweit bis einer nicht billiger produzieren kann. Das
stimmt.“ Er sah seine Tochter nickend an. Dann wartete er, bis ihr
Lachen nicht mehr ganz so heiter war und sie bereit war, darüber
nachzudenken.
„Dann steht der eine mit dem höheren Preis vor einem Problem“, fuhr ihr Vater fort.
Sophie überlegte und versuchte zu verstehen, warum ihr Vater das nicht
lustig fand. Sie versuchte sich in die Lage des Verkäufers zu versetzen.
„Er verkauft dann nichts und geht pleite“, meinte Sophie und zog die Stirn kraus.
„Oder?“ Ihr Vater ermutigte sie, den Gedanken zu Ende zu führen.
„Oder er versucht auch billiger zu produzieren.“
„Und wie soll das gehen?“
Sophie zuckte mit der Schulter und sah ihren Vater an.
Doch dieser wollte, dass seine Tochter es selbst aussprach. In ihrem Unterbewusstsein wusste sie es längst.
„Er wird billigere Materialien nehmen.“
Ihr Vater nicht zustimmend.
„Schlechtere Qualität?!“ Sophie sprach es leicht gequält aus.
„Und der Andere dann?“
„Der auch?“
„Giftige Stoffe?“, fragte ihr Vater.
„Nein!“, antwortete Sophie, ohne zu zögern, und war entrüstet. „Das darf er nicht, dafür gibt es Gesetze.“
„Darf er denn die Umwelt verschmutzen, wenn er dadurch billiger produzieren kann?“, fragte ihr Vater weiter.
„Nein, auch dafür gibt es Gesetze!“ Sophie fragte sich, wie ihr Vater nur auf so merkwürdige Ideen kam.
„Gibt es die?“
„Natürlich! Das muss so sein.“ Sie richtete ihren Oberkörper auf und blickte ihren Vater finster an.
„Viele Dinge müssen so sein. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass
sie so sind.“ Ihr Vater sprach beschwichtigend und fuhr ihr liebevoll
über den Rücken.
„Ja, aber“ Sophie regte sich auf.
„Eigentlich hast du jetzt schon verstanden, was Ökodumping ist.“
Sophie antwortete nicht und zog ihren Mund kraus.
„Einzelne Firmen können nicht alles frei entscheiden, was sie wollen.
Sie können sich an Gesetze halten oder die Anforderung sogar
übertreffen, wenn sie es sich leisten können und Kunden ihre Produkte
auch kaufen, wenn sie teurer sind. Wenn sie aber gegen Gesetze verstoßen
um ihre Kosten zu drücken, dann müssen sie mit Strafen rechnen.
Einige Länder haben sich aber dazu entschlossen keine oder zu wenige
Gesetze einzuführen, die die Umwelt schützen. Das gibt den inländischen
Unternehmen den Vorteil kostengünstiger zu produzieren und sich dadurch
international mit ihren Produkten aufgrund der geringeren Preise
durchsetzen zu können.“
„Aber warum machen die das? Das zerstört doch die Umwelt!“ Sophie wollte das nicht verstehen.
„Das machen auch nur Entwicklungsländer, denen die Zukunft weit weniger
wichtig ist. Sie wollen jetzt Geld verdienen. Dass Menschen deswegen
vergiftet werden, ist denen egal – Geld regiert die Welt, das musst du
dir merken.“
Er strich ihr weiter über den Rücken, als könnte das die Wahrheit angenehmer erscheinen lassen.
„Aber das ist ja asozial! Scheiß Geld!“
„Das wird sich legen. Lass die Länder sich erst einmal entwickeln, dann werden sie auch sie fortschrittlich denken wie wir.“
Er lächelte ihr aufmunternd zu.
„Ökodumping ist ein Preiskampf, der auf Kosten der Natur durchgeführt
wird.“ Er wollte seine Antwort abschließen. „Wenn du magst, dann helfe
ich euch, wenn du und“ er machte eine unbeholfene Bewegung mit der Hand.
„Anna“, vervollständigte Sophie.
„… und Anna am Referat arbeitet. Dumping kann eigentlich auf Kosten von
vielen Dingen betrieben werden. Auf Kosten der Umwelt, der Gesundheit
oder von Menschenrechten. Aber genau so kann es auf Kosten zukünftiger
Generationen geschehen, wenn deren Potenziale zerstört werden.“
Sophie blickte finster drein und schaute dem Fernsehsprecher zu, wie er
als Stummfilm das Wetter präsentierte – heiter bis bewölkt.
„Hab ich dir weiter geholfen?“
„Irgendwie schon“, brummte sie und sah in Gedanken Giftfässer im Wasser schwimmen.
Ihr Vater fuhr ihr über den Kopf und zerzauste ihr Haar, dann stand er auf.
„So jetzt muss ich aber. Ich will noch schnell tanken fahren. Morgen geht es ab in den Urlaub.“
„Wir können ja auch unterwegs tanken“, meinte Sophie leicht abwesend.
„Ich bin doch nicht dumm und tanke in Deutschland“, lachte er vergnügt.
„Außerdem brauch ich noch eine Stange Zigaretten. Ein Glück sind die
nicht auch noch teurer geworden.“
Herrin der Dächer
Nur auf den Dächern fühlte sie sich frei.
Hier gab es keine Regeln, niemanden, der ihr etwas vorschrieb. Hier war
sie die Herrin. Sie blieb an einem kleinen Turm stehen und dachte nach.
Unter ihr, bis hinunter ins Tal, lag ein Meer aus Dächern. Sie konnte
sehen, wie der Gestank in Schwaden emporstieg. Dieses Bild gab es nur im
Winter. Die Dächer der Burg schenkten ihr Einblicke, die den meisten
verborgen blieben. Sie stand oft so da und sah anderen dabei zu, wie sie
unter ihr umher blickten. Sie waren oft nah und doch schienen sie
unendlich weit weg. Wie in einer anderen Welt oder einer anderen Zeit.
Hektisch oder stocksteif erfüllten sie ihre Pflichten.
Heute blieb sie aber nicht lange stehen.
Es waren nicht viele Leute unterwegs. Wer hinaustrat goss oft bloß
seinen Dreck auf die Straße und suchte schnellst möglich die Tür wieder
von innen zu schließen. Der blecherne Klang der Patrouillen blieb heute
aus. Wer nur konnte hatte sich in einen der zahlreichen kleineren Türme
zurückgezogen oder hockte neben einem Eimer mit glühendem Holz. Der
König war streng, aber er wusste wessen Treue er sich nicht verscherzen
durfte.
Jetzt war sie frei, Herrin über alle
Dächer dieser Burg. Am liebsten wäre sie den ganzen Tag über die Dächer
geschlichen, doch die winterliche Kälte nahm sich ihrem dürren Körper
schnell an. Die zerschlissenen Kleider waren dagegen machtlos und so
kapitulierte sie und ging zurück zum Turm. Vor dem Fenster lauschte sie
kurz ob sie keine Schritte hörte, dann kletterte sie vorsichtig hinein.
Ihre Finger schmerzten als sie die Steine anfasste. Es fühlte sich an,
als wären ihre Hände gefroren und als würden ihre Finger bei der
nächsten Bewegung abbrechen. Doch das beunruhigte sie nicht weiter. Der
Schmerz war ein treuer Begleiter und so brachte sie es fertig, nicht so
oft an ihren Hunger zu denken. Sie schlich die Treppe hinunter und
verschwand in einer Nische. Eine vertraute Stimme drang zu ihr durch,
gedämpft von einer dicken Mauer. Ein Schmunzeln der Vorfreude stahl sich
auf ihre Lippen. Letzten Winter hatte Asylma ein neues Versteck
entdeckt.
Sie zwängte sich hindurch, es wurde immer
schmaler und niedriger. Den letzten Meter musste sie sich auf den
steinernen Boden legen. Mit den Füßen stieß sie sich weiter, mit einer
Hand ertastete sie den Weg und mit der anderen schützte sie ihr Gesicht
vor den scharfen Steinen. Allmählich wurde die Stimme deutlicher. Es war
Gertrude, eine der zahlreichen Dienstmägde.
Der Hohlraum wurde erst breiter, dann
höher, als sie am anderen Ende des Raumes angekommen war. Der Gedanke
amüsierte sie, unter den Füßen der anderen zu schleichen, ohne dass
diese etwas davon ahnten.
Endlich war sie dort angekommen, wo sie
hinwollte und richtete sich auf. Es war ein dunkler Ort, aber vor allem
im Winter war es, seit sie diesen Baufehler der Burg kannte, zu ihrem
Lieblingsort geworden. Sie setzte sich auf einen Steinhaufen nahe der
Wand, den sie dort mühsam errichtet hatte. Wohlige Wärme durchströmte
ihren Körper. Ihre Hände legte sie gegen die Wand hinter sich. Ein
schmerzhaftes Kribbeln brachte erneut Leben in ihre Finger. Einige
Minuten war sie damit beschäftigt ihre Haut gegen die Wand zu drücken.
Dann erst nahm sie wieder die Stimmen wahr, die nun dicht neben ihr
ertönten.
Es war immer noch Gertrude, die
hauptsächlich sprach. Vorsichtig nahm Asylma einen lockeren Stein aus
der Wand. Die Luft, die ihr ins Gesicht blies, war angenehm warm und
führte einen Duft mit sich, der ihr das Wasser im Mund zusammen laufen
ließ. Durch einen Spalt sah sie wie Elisabeth, die Tochter des Königs,
an Marzipanoblaten naschte. Gertrude war derweil damit beschäftigt
Elisabeths Haar zu kämmen. Immer wieder musste Elisabeth kichern.
Gertrude war nicht die Fleißigste unter den Bediensteten, aber sie
verstand es lebensecht zu erzählen. Asylma war immer wieder aufs Neue
verwundert, wie Gertrude all das gewahr wurde. Besonders wenn Gertrude
intime Details der jüngeren Söhne anderer Adliger ausplauderte, musste
Elisabeth kichern. Gertrude hatte eine Art zu erzählen, dass es meist
verboten verschwörerisch klang. Elisabeth konnte es nicht intim genug
werden und fragte fordernd aber auch gebannt nach mehr Einzelheiten.
Gertrude enttäuschte sie nicht und versorgte Elisabeth mit Klatsch und
Tratsch.
Asylma fragte sich oft, woher Gertrude
das alles wusste. Wahrscheinlich war ohnehin das meiste davon frei
erfunden. Aber es verfehlte seine Wirkung nicht. Während andere hart
arbeiten mussten, hatte sie sich die Gunst der Prinzessin verschafft und
konnte einen großen Teil schwatzend und wohlgenährt in einem der
wenigen beheizten Räume verbringen.
Asylma und Elisabeth waren im gleichen
Alter, doch um ihre Gunst, so dachte Asylma, war noch nie jemand bemüht
gewesen. Dabei war sie es die nähen, kochen und putzen konnte. Sie war
es, die sich nicht zu schade war, um den Schweinestall zu misten oder
Hühner zu rupfen. Und sie war es, die fleißig lernte, sobald sie nur
irgendjemanden fand, der ihr etwas beibringen konnte und wollte.
Bruder Johannes, ein alter Pater, hatte
ihr Lesen und Schreiben beigebracht, wenn immer sie es geschafft hatte,
ihm im Hospiz Gesellschaft zu leisten. Drei ein halb Jahre hatte er dort
gelegen, nachdem er von einem Apfelbaum im Garten des Klosters
runtergefallen war und fortan gelähmt im Bett gelegen hatte. Im
vergangenen Herbst war er nach einem heftigen Fieber gestorben. Zwei
Bücher hatte er ihr heimlich überlassen. Eine Bibel und ein Buch, das
ihm ein Fremder geschenkt hatte – sein wertvollster Schatz, wie er stets
behauptet hatte. Es war eine schlichte Fassung einer Übersetzung. Das
Original, sagte er, stammte aus dem Land indem die Sonne als erstes
aufging. Asylma erinnerte sich an das, was er immer zu sagen pflegte:
Alle Menschen sind gleich. Alle werden sie als leeres Fass geboren.
Manche sterben als leeres Fass, manche stopfen sich voll und sterben als
Fass voller verfaulter Speisen. Manche glauben etwas zu lernen und
befüllen es mit Wasser und wenige an der Zahl sind offen für alles
Wissen und entscheiden, was wirklich wichtig ist. Wenn so einer stirbt,
hinterlässt er ein Fass mit dem edelsten Wein. Dieses Buch wäre ein
solches Fass.
Asylma hatte lange nicht verstanden, was
er damit sagen wollte, doch allmählich glaubte sie der Lösung des
Rätsels näher zu kommen. Auch wenn ihr noch etliches unklar blieb.
Wie konnten alle Menschen gleich sein, wenn sie es doch offensichtlich nicht waren.
„Au“, stieß Elisabeth verärgert hervor
und drehte sich zu Gertrude um, die erschrocken inne hielt. „Pass doch
auf, du tust mir weh!“
„Verzeiht, ich hätte vorsichtig sein müssen.“
„Ach, schon gut. Es reicht ohnehin jetzt. Geh und hol mir ein Glas warme Mich mit Honig.“
„Sehr wohl, Milady.“ Gertrude machte einen Knicks und ging rückwärts zur Tür.
„Und nimm den Braten mit. Ich habe keine Lust, dass ich nachher nach diesem toten Tier stinke.“
Asylma sah erst jetzt, nachdem Gertrude
sich bewegt hatte, den Urquell des Duftes, der ihr das Wasser im Mund
zusammen laufen ließ. Der Braten war kaum angerührt.
Gertrude ging raus und nahm ihn nur allzu
gern mit. Das war ihr Lohn für die Intrigen, das Belauschen und Lästern
und dafür, dass sie die Launen der Prinzessin über sich ergehen ließ.
Elisabeth stand auf und stellte sich vor
den Kamin. Asylma war nun kaum mehr als eineinhalb Meter von ihr
entfernt. Ihr Herz begann zu rasen, dann beruhigte sie sich. Bis jetzt
hatte niemand sie bemerkt, obwohl sie einen großen Teil des Raumes
überblicken konnte. Hinter ihr war es finster und die Flammen im Kamin
blendeten jeden, der in ihre Richtung blickte.
Elisabeth stierte gelangweilt in die
Flammen. Sie fuhr sich mit einer Hand durch ihre langen braunen Haare,
die glatt an ihrem runden Gesicht herunter fielen. Sie trug ein langes
seidenes Überkleid, das zu eng war für ihren fülligen Leib. In der
anderen Hand hielt die Prinzessin eine Marzipanoblate an der sie
gelegentlich herum knabberte.
Was würde Asylma darum geben, die
gleichen Chancen zu haben. Elisabeth war faul und dumm. Asylma hatte
allzu oft gehört, wie die Prinzessin mit ihren Lehrern umsprang. Asylma
nutzte jede Ausrede, jede Gelegenheit um hier zu sein, wenn Elisabeth
eine Lehrstunde hatte. Asylma war eine fleißige Schülerin, von deren
Existenz die Professoren nichts wussten. Was würde sie darum geben
Fragen stellen zu dürfen. Doch das konnte sie nicht. Nicht die Wand war
das Problem. Nein, das Problem war, dass sie nicht jenseits der Wand
geboren war. Hätte nicht ihre Mutter sie auf die Welt gebracht, sondern
die Königin, dann müsste sie nicht im Dunkeln kauern.
Alle Menschen sind gleich? Wie sollte das
möglich sein, wenn es schon ausreichte auf dem falschen Meter auf die
Welt zu kommen, um auf ewig gebrandmarkt zu bleiben.
Elisabeth fuhr mit der Oblate zum Mund
und biss ein kleines Stück ab, während ein weitaus größeres von ihr
unbeachtet zur Erde fiel.
Bruder Johannes hatte recht gehabt. Jetzt
erkannte sie es. Alle Menschen waren in einer Sache gleich. Alle wurden
sie als leeres Fass geboren. Nur werden manche Fässer mit Gold und
Silber geschmückt, andere werden in den Dreck gestellt bis sie verrotten
und wieder andere werden in dunklen Grotten eingesperrt, damit sie bis
an das Ende ihrer Tage leer bleiben.
Elisabeth schluckte den letzten Bissen
hinunter. Doch alles was Asylma sah, war ein hübsch dekoriertes Fass,
vollgestopft mit verfaulten Speisen.
Vielleicht, so träumte Asylma, würde es
einmal eine Zukunft geben, in der jedes Fass frei wählen konnte, wie und
ob es gefüllt werden möchte und nicht der Flecken Erde entscheidet auf
dem man geboren wird. Menschen unterscheiden sich nicht darin, wieviel
Geld sie haben oder wieviel Macht. Sie unterscheiden sich darin auf
welcher Seite der Mauer sie geboren werden und ab dann, in der
Entscheidung, die sie treffen.
Asylma grinste zufrieden. Sie war lieber ein schäbiges Fass mit edlem Wein, als ein teures Fass ohne Inhalt von Wert.
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