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Kinderschrei

11:55, notierte die Krankenschwester auf ihrem Blog. Ein Schrei und schon ging das Rennen los. Im Kreißsaal war der Start erfolgt und sein Leben versprach reich an Jahren zu werden. Ein ganzes Jahrhundert, wenn das Glück ihm hold sein würde. Doch davon wusste es nun noch nichts.
Erst einmal Schreien war angesagt, während andere bereits die Weichen setzten, für ein erfülltes und frohes Leben. Wobei, voll und erfolgreich würde es besser treffen.
Aber genug davon. In drei Jahren musste es sich bereits gegen Altersgenossen behaupten. Ausbildung ist wichtig – Existenzbedingung. So sahen es die Werte der Menschen. Blind beachteten diese nur die Besten und waren dann noch auf diese neidisch. Andere gab es dann nicht. Der Zweitbeste, wie das schon klang. Irgend so einer aus der Provinz, dessen Arbeit man nicht schätzen musste, und dass er ein Mensch war, was zählte das schon. Man musste sich beweisen, behaupten, Werte erreichen. Und die Latte war hoch, schließlich war der Zweitbeste erster der Verlierer.
Hart war es schon, aber was sollte man tun: Wer glücklich sein will, muss Geld haben. Glück kauft man. Im Supermarkt der Kilopreis: unbezahlbar. Deshalb auch wollten die Menschen immer mehr. Millionen, sie reichten nicht. Nur wenige Gramm vergänglicher Zufriedenheit gab es dafür. Vielleicht noch Lob, da man zu den Besten gehörte und tonnenweise Neid, Wut und böses Blut. Nur weil man die Werte der Menschen erreicht hatte, und diese so sein wollten, wie man war. Nur, sie waren es nicht.
Wie gut, dass der Balge noch nichts von diesen Gesellschaftswerten wusste. Aber bald schon würden sie fragen, die Nachbarn, die Bekannten. Und wie macht es sich? Lernt es auch gut?
Die mitleidigen Blicke, wenn es den Werten fern blieb, diesen menschgemachten, dem Maß aller Dinge. Dem einzigen Weg zum Glück. Nur, wenn das stimmte, warum hat man noch nie einen Menschen gesehen, der so glücklich ist, dass er zufrieden ist? Gab es derer nicht? Oder sah man sie nicht? Weil sie nicht nach Werten strebten? Weil sie nicht reich waren und nicht so viel Lärm machten? Nicht goldbehangen prahlten? Nein, das konnte nicht sein. Wo sollten sie ihr Glück denn finden, wenn nicht im Supermarkt? Etwa in sich selbst, wie einige Exzentriker manchmal behaupteten? Aber warum dann diese Werte?
Gut, dass keiner dem Kind solche Flausen in den Kopf setzte. Es würde seinen Weg schon gehen. Es war doch noch so jung. Vielleicht würde es die Latte gar schaffen und am Ende dann ins Geschäft gehen, als junger Mensch vielleicht schon. Freundlich, wohlerzogen: Ein Kilo Glück, bitte.
Und sollte es nicht schnell genug sein, nun, es hatte schließlich hundert Jahre zum laufen. Und allein musste es auch nicht rennen. So viele gab es, die es überholen wollten. Die einen beschämt, weil es zu langsam war, die anderen neidisch, weil sie nicht hinter her kamen.
Immer noch schrie das neugeborene Kind, während die Krankenschwester es hinaus trug, recht hatte es. Und vielleicht – wenn es Glück hatte – würde es in hundert Jahren sagen können, dass es wenigstens einen Tag wirklich gelebt hat.

Die Glaswand


„Samstag“, stand es groß und schwarz auf dem Kalender. Der Monat verriet teilnahmslos den Beginn des Frühlings, welcher sich noch hinter einer gräulich leuchtenden Wolkendecke versteckte.
Der Morgen war eben erst angebrochen, und begann wie die Tage davor, die Wochen, die Monate. Die Zahlen auf dem Kalender wechselten, ebenso wie die Akten auf dem Schreibtisch. Leblos lagen sie da, und zerrten den Mann an den Schreibtisch. Sie übten eine große Macht auf ihn aus und wirkten dennoch unschuldig.
Der Schreibtisch war bis ins kleinste Detail aufgeräumt. Die Lampe darauf glühte nicht, einzig das große Fenster spendete ein kaltes fahles Licht. Dennoch saß ein Mann davor, sinnend, und starrte auf die dicke Holzplatte. Er war noch müde und rieb sich das Gesicht, als könnte er seine Müdigkeit damit vertreiben. Doch sein Blick blieb kraftlos. Hilflos suchend, blickte er sich um. Er wusste nicht, wonach er suchte. Kurz blieb sein Blick an einem Foto haften. In seinem Kopf hörte er Vorwürfe, und wandte sich ab.
Es war Wochenende, doch das kannte er nicht. Er wollte arbeiten. Es galt die Akten zu wälzen, die für die nächste Woche fertig sein mussten. Aber er bewegte sich nicht. Er fand den Anfang nicht. Sein Erscheinen war makellos, sein Rücken gerade. So saß er da und sah aus, als würde er jeden Augenblick loslegen. Doch die digitale Uhr zerstückelte die Zeit in Zahlen, ohne dass sich etwas änderte. Widersprüchliche Gedanken hielten ihn in dieser Starre gefangen.
Die Wände waren an sich weiß, aber im matten Licht wirkten sie grau und kalt. Die weichen Ledersessel standen leicht verloren im großen Zimmer umher, und versuchten vergebens, den Eindruck von Luxus zu verteidigen. Doch die Welt bekam Risse. Die Illusionen verblassten mit der Zeit. Er hatte hart für all das gearbeitet. Viele hatte er damit beeindrucken können, gar sich selbst, doch nun erdrückte es ihn mit seinem kalten Glanz. Er hörte seine Frau nach ihm rufen. „Gleich, ich muss nur noch kurz“, hörte er sich antworten und rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. Nur kurz, doch daraus waren Jahren geworden. Nun war er allein, weil sie nicht gewartet hatte.
Der Mann hatte seinen Kopf in seine Hände sinken lassen und hielt sich mit ihnen die Ohren zu, als wollte er die Schreie ersticken, welche nur er hören konnte. Sie schrien nach ihm, als wollten sie ihm etwas sagen. Doch er wusste, was diese Stimmen sagen wollten, und er wollte es nicht hören. Was wussten die schon – diese rastlosen Stimmen, die ihn auch in seinen Träumen verfolgten.
Sie wollten ihn bremsen. Voller Neid waren sie wegen seinem Erfolg. Kein Wunder, dass sie so verzweifelt schrien.
Das fahle Licht, das von den Wänden zurück geworfen wurde, ließ ihn alt erscheinen. Sein Rücken war dem Fenster zugewandt, und so konnte er nur in den endlosen Raum hineinstarren. Doch den sah er längst nicht mehr. So viel hatte er erreichen wollen, so viel hatte er erreicht, und doch war ihm alles verloren gegangen. Alles was ihm geblieben war, war grau und kalt. Die Akten waren ihm treu geblieben und verlangten nun, dass er sich ihrer annahm.
Dach dann stand er auf. Langsam, als wäre er ein alter Mann. Sein Gesicht verzerrte sich zu einem tonlosen Gähnen, während er seine Arme auseinanderriss, als versuche er, aus seinem Körper auszubrechen.
Er drehte sich um und stand gleich vor dem Fenster, welches bis an die weit entfernte Decke reichte. Viele Meter lang war dieses, und ersetzte eine ganze Wand.
Die Wolkendecke war stark durchflutet von Licht, und ließ den Himmel weiß erscheinen. Der Blick des jungen Mannes glitt langsam von einer Seite zur anderen. Die Bewegung war gleichmäßig, und er selbst unberührt von dem, was er sah. Geblendet von der gleichmäßigen Flut weißen Lichts, stand er da, leblos, wie der Raum hinter ihm. Nur die Uhr wechselte ihr Gesicht und verriet, dass die Zeit nicht stehen geblieben war. Draußen umrahmte eine Hecke die weite Wiese, in der einige Bäume standen. Endlich schien der Mann etwas zu bemerken. Ihm fiel auf, wie der Wind in den Ästen spielte.
Er hielt den Atem an, horchte, doch das Rascheln der tänzelnden Blätter fehlte. Er strengte sich an, doch er fühlte nichts. Es war ihm alles fremd, und so fern. Er versuchte sich zu erinnern, doch es blieb ihm verborgen. Die Welt da draußen, er hörte sie nicht, er fühlte sie nicht.
Nah am Fenster wackelte ein Ast. Ein Vogel, eben gelandet, trällerte sein Lied. Doch nur der Schnabel bewegte sich. Das Fenster schluckte jedes Geräusch. Stummfilm, sein Leben, es war draußen, ausgeschlossen. So fern und unerreichbar wie jedes Gefühl.
Wieder bewegte sich etwas. Ein Junge tanzte lachend auf dem Rasen. Wochenende, sein Sohn wusste das, und spielte mit dem Drachen. Ein Geschenk aus einer lange vergangenen Zeit.
Hoch flog er, lebhaft spielten sie. Der Drache, sein Sohn und der Wind. So wie er es getan hatte – früher – in einer anderen Welt. In einer, in der er den Wind noch gespürt hatte.
Es war nur mehr eine Erinnerung. Alleine stand er da, und starrte hinaus. Sinnend drehte er sich um, sah den Schreibtisch. Das Gesicht der Uhr schrie ihn an. Eine andere Stimme war es. Mächtig, beide kämpften, wie Teufel und Engel auf seiner Schulter. Wie hatte er das zulassen können? Warum waren ihm die Zeichen verborgen geblieben? Er hörte die Stimme seiner Frau nach ihm rufen. Anschreien tat sie ihn.
Doch nun war es zu spät. Sie und sein Sohn lebten ihr eigenes Leben. Sein Kopf sank gegen die Glasscheibe. Seine flache Hand legte er gleich daneben und es sah aus, als wollte diese durch die Scheibe hindurch greifen. Doch er war zu schwach. Wütend verzog sich seine Hand zu einer Faust und pochte zweimal gegen das Glas. Resignierend glitt sie nach unten, und er stieß sich ab. Dann zog er seinen Stuhl hervor und setzte sich. Wahllos nahm er eine Akte in seine Hand. Welche, war bedeutungslos.

Kränkelnde Gesellschaft


Nach dem anhaltenden Rattern des elektrischen Schlosses, öffnete sich die Tür unter meinem aufgestützten Gewicht leidend. Ein dunkler Flur erwartete mich, und die Kälte, an mir vorbei strömend, drängte sich mit hinein. Ein Lichtfleck verriet eine Türöffnung. Mich darauf zu bewegend, konnte ich aufgeregtes Stöhnen vernehmen. Im Türrahmen stehend, erkannte ich den Störenfried. Ein kleines Kind krabbelte, offensichtlich vergnügt, unter einem niedrigen Tisch herum. Kaum merklich wurde es stiller, als dieses mich erblickte. Zu kriechen hörte es auf und schenkte mir, dem Eindringling, gebannte Blicke. Als ich diese mit einem Lächeln erwiderte, stieß sich das Kind den Kopf. Doch aus irgendeinem Grund, erachtete es dies als unwichtig und behielt mich vorsichtshalber weiter im Auge.
Gänzlich eingetreten, grüßte ich. Erst jetzt fiel Licht auf meine Gestalt. Bislang hatte mich lediglich eine Frau bemerkt, augenscheinlich die Mutter, die das Geschehen genau beobachtet hatte. Ihr Mund formte sich andeutungsweise zu einem Grinsen. Wohl war mein schlechtes Gewissen spürbar gewesen.
Ein Mädchen, etwas erschreckt von meinem Erscheinen, grüßte mechanisch zurück, bevor es sein Gesicht wieder in seine Illustrierte vergrub. Ein alter Mann brummte etwas, das man mit einigem guten Willen als Begrüßung hätte deuten können. Ansonsten schwieg die Gesellschaft. Etwas, das sie auch von mir erwartete. Ein wenig durfte ich noch für Unruhe sorgen, dann aber sollte ich sitzen.
Meines Mantels wollte ich mich aber noch entledigen. Der Kleiderständer, sinnvollerweise auf der, der Tür abgewandten Seite postiert, war notorisch überfüllt. Über ein Paar Beine kletternd, gelang ich dorthin und machte mir an diesem zu schaffen. Die Beine, unglücklich ausgestreckt, schienen bei meiner Rückreise erneut Wegegeld erheben zu wollen, während deren Besitzer gelangweilt durch mich hindurch auf den Boden starrte.
Ohne Wahlmöglichkeit, begab ich mich in den hinteren Teil des Raumes, um dort Platz zu nehmen. Zu meiner rechten saß eine alte Frau. Ihre Wollmütze trug noch die zu Tropfen geschmolzenen Schneeflocken, während sie ihre beige Handtasche auf ihrem Schoß hatte und beidhändig umklammerte. Zu meiner linken stand bedrohlich eine angriffslustige Stechpalme, die den Eindruck erweckte, mir keine Bewegung verzeihen zu wollen.
Das Kind hatte wieder begonnen den Tisch zu erkunden, während die Mutter, mir quer gegenüber sitzend, mit hilflosen Handbewegungen ihr Säugling zum Innehalten bewegen wollte. Eine Stellung, die Kinder nur selten einnehmen konnten. Aber eigentlich machte es auch keinen Lärm. Nur, dass das Rutschen auf dem spätestens jetzt aufgewischten Boden mehr Geräusche verursachtete, als das allgemeine Umblättern der Zeitschriften. Einen Umstand, den manche wohl als Aufstand umschrieben hätten. Mir aber war solches Denken fremd. Mir gefiel das erkundungsfreudige Benehmen des Kleinen. Und in Ermangelung eines anderen Lebenszeichens, ließ ich meinen Blick auch weiter auf diesem ruhen.
Zunächst geschah auch nichts weiter. Zeitschriften wurden durchblättert. Ausgetauscht, wenn als bekannt erachtet. Dies wurde dann stets mit reichlich Interesse von dem Kleinen beobachtet und mit einem erfreuten Glucksen kommentiert. Deutlich zum Missfallen einer Dame mit ausladendem Dekolletee, das nur unzureichend mit Goldketten ausgestopft war. Jedesmal rümpfte sie die Nase.
Unruhig rutschte die Mutter auf ihrem Stuhl hin und her. Das allgemeine Schweigen, zwecks steriler Notwendigkeit, duldete keine Skandale. Sich ihrer Schuld bewusst, streckte die Mutter liebevoll ihre Arme aus. Doch das Kind, die Geste missdeutend, erachtete das Versteck unter dem Tisch um einiges Spannender. Die Goldfrau schüttelte verärgert den Kopf und ihre hochgezogene Braue machte deutlich, dass sie dieses Scheitern erwartet hatte. Um sich in ihrem Urteil bestätigen zu lassen, blickte sie zur alten Frau neben mir. Doch zu meiner Freude, war diese zu sehr in Sorge um ihre Handtasche, als dass sie das Geschehen hätte mitbekommen können. Empört starrte die mit Ketten behangene Frau zur Decke, als könnte sie sich dadurch unserer unwürdigen Gesellschaft entheben.
Da ich durch meinen ersten Kontakt mich bereits infiziert glaubte, konnte auch ein weiteres Lächeln nichts schaden. Die Mutter erwiderte es, erleichtert, dass sie mit ihrer abstoßenden Krankheit nicht alleine war. Das Kind, von dieser wortlosen Unterhaltung angetan, lugte hinter einem der Pfosten hervor.
Ich jedoch wandte mich dem Fenster zu. Wollte deutlich zeigen, dass die – von der Frau als unangemessenen Lärm bezeichneten – Geräusche mich nicht störten, dass ich diese nicht einmal als solche wahrnahm. Mich dem tristen Anblick der Wolken draußen verwehrend, blickte ich mich im Zimmer um. Gelblich-grün waren die Wände gestrichen. Ein nicht interpretierbares Bild stach aus dem Grün hervor. Schmunzelnd, dachte ich, es könnte einmal unter einem Tisch gemalt worden sein.
Der Raum gab nicht viel her, und so begann ich die Wartenden zu betrachten. Das Mädchen vergrub sich immer noch in seiner Zeitschrift und las wie gebannt einen Artikel. Den Rücken schmerzhaft gerade, fragte ich mich, ob es überhaupt atmete. Daneben saß ein unscheinbarer Mann, mitte dreißig, die Kappe ins Gesicht gezogen und schlief. Mein Blick zog weiter. Der Kleiderständer, passte sich mit seinem Benehmen den Anwesenden an und füllte den Raum, ohne den Eindruck erwecken zu wollen hierhin zu gehören. Der Lümmel gleich daneben, immer noch den Wächter desselben spielend, ließ ansonsten aber alle unbehelligt und ignorierte auch die Frau zu seiner Linken, die immer noch wie auf Dornen saß.
Ansonsten blieb nur noch der alte Mann, gleich neben der Tür, unerwähnt. Er saß neben der Verfechterin aller Sittsamkeit, in ihrem Kaschmirfetzen. Der Mann hatte sich nach vorne gebeugt und stützte sich beidhändig auf seinen Gehstock. Sein Blick auf seine braunen Lederschuhe gerichtet, trug auch er nicht zur Unterhaltung bei.
Als ich alles zu sehen geglaubt hatte, erblickte ich ein Paar großer Augen auf Kniehöhe. Der Kleine hatte sich heran gewagt und hielt mich offenkundig für einen Tisch. Prüfend betastete er meine Beine, in dem Irrtum, es handle sich dabei um Pfosten. Überrascht lächelte ich es an. Der Tisch lebte, stellte es begeistert glucksend fest. Aufgeregt, wollte es in die Hände klatschen, verlor aber das Gleichgewicht und fiel lachend auf seinen Hintern.
Erschreckt sprang die Mutter auf. Auf mich zu eilend, lächelte sie mich verlegen an. Als sie ihren Sohn auf den Arm nahm, begann sie sich bei mir zu entschuldigen. Mit freudiger Miene, erklärte ich wortlos, dass es nichts zu entschuldigen gab. Die Mutter sah aber den allgemeinen Konsens verletzt, mich mit einer fast verbrecherischen Anwesenheit bedroht zu haben. Die Goldfrau zeigte sich diesbezüglich meinungsgleich und protokollierte die Angelegenheit mit strengen Blicken.
Schützend hielt die Mutter ihr Kind vorerst auf dem Schoß. Der Schutz indes, galt nicht dem Kind, sondern der Allgemeinheit. Ein solcher Aufstand bedrohte das Schweigen.
Es dauerte eine Weile bis wieder Ruhe einkehrte. Eigentlich war es nur die Goldfrau, die sich echauffiert fühlte. Keiner der anderen hatte überhaupt etwas bemerkt. Es galt die Wartezeit zu überbrücken, derweil konnte man sich nicht mit anderen Dingen beschäftigen.
Der Forschergeist, dem Menschen seit jeher in den Genen steckend, ließ das Kind jedoch nicht lange auf dem Schoß seiner Mutter ausharren und so versteckte es sich schon bald wieder unter dem Tisch.
Ein Umstand, der abermals die Missbilligung der Allgemeinheit – repräsentiert durch die Goldfrau – erfuhr. Fast schon richtete sich ihr Zorn gegen mich, da ich nicht die nötige Empörung aufbrachte. Aber mir gefiel diese reinste und ungezügelte Neugier des Kleinen. Vielleicht ein wenig gebremst von verunsichernder Angst.
Es dauerte auch nicht lange, bis meine Beine erneut eine gründliche Prüfung erfuhren. Die Mutter wollte auch gleich wieder aufspringen, doch mein freudiges Gesicht, ließ sie inne halten. Und so begnügte sie sich damit angespannt auf ihrem Stuhl hin und her zu rutschen.
Die Entdeckungsfreude des Kleinen auf die Probe stellend, hob ich ihn hoch und ließ ihn auf meinem Knie Platz nehmen. Verwundert über das seltsame Benehmen des Tisches, begann das Kind von neuem zu glucksen. Sich versichernd, dass seine Mutter noch in der Nähe war, blickte es sich um. Dann begann es vorsichtig zu schaukeln, als traue es nicht der Stabilität dieser Konstruktion. Doch als diese nicht einzustürzen drohte, wurde es lebhafter.
„Unerhört ist das!“ Die Ketten behangene Frau sah sich in der Pflicht mich vor der Bedrohung zu beschützen. Die Mutter öffnete den Mund und rutsche auf ihrem Stuhl nach vorne. Doch mein freudiger Blick ließ sie von neuem verharren. Hilfesuchend blickte sich die Goldfrau um. Doch ihr Protest fand nur wenig Unterstützung. Das Mädchen verschwand noch tiefer hinter der Zeitschrift, selbst ihre Haare waren nicht mehr zu erblicken. Der Mann schlief noch, während der Lümmel noch weiter in den Stuhl versunken war und sich jeder Teilnahme verwehrte.
Nur der alte Mann hatte aufgeblickt. Sein Gehstock klopfte zweimal auf den Fußboden, als wollte er bestätigen, dass er die Angelegenheit vergegenwärtigt hatte. Sich jeder Meinungs­bildung entsagend, blieb seine Miene aber ausdruckslos.
„Max Lieblich, bitte.“ Die Sekretärin war eingetreten und verlangte den nächsten Patienten. Fluchtartig sprang die Mutter auf. Und auf mich zustrebend, lächelte sie mir verlegen zu. Als sie ihr Kind auf den Arm nahm, reichte ich diesem zum Abschied meinen Zeigefinger. Dieses missverstand die Geste und wollte denselben mitnehmen. Als Entschädigung lächelte ich ihm zu und behielt meinen Finger für mich.
Draußen im Flur wurden die beiden gleich von der Ärztin begrüßt. Seltsam, dachte ich, von uns allen, so befand ich mit meinem medizinischen Unwissen, war der Kleine, der Gesündeste.

Das Hochhaus


„Nicht jetzt!“ Mehr als ein Zischen war es nicht. Wie so oft sah sie einzig eine abweisende Handbewegung. Ihr leidenschaftliches und lärmendes Bemühen ein Gespräch zu führen, abgewürgt mit der unbewussten Geste der Ungeduld.
Ihr Vater war am Telefonieren und wollte nicht gestört werden. Nahm sie nicht einmal wahr und wies das kleine Mädchen mit einer kurzen Umdrehung ab. Halb neun war es und Sophie hatte ihren Vater ins Büro begleitet. Ihre Mutter arbeitete halbtags und so wurde das Gebäude, in dem ihr Vater arbeitete, während den Schulferien zu ihrem Hort. Was genau Sophies Vater arbeitete, wusste sie nicht. Manager, antwortete er immer, wenn sie fragte. Aber verstehen tat sie es dennoch nicht. Manchmal sah sie ihm dabei zu, wie er arbeitete. Allerdings war dieser ständig am Telefonieren und hatte niemals Zeit. Dann stand er da, so wie jetzt, vor der großen Fensterscheibe und stierte über das Meer der Häuser unter ihm. Mit der Hand im Nacken versuchte er sich selbst zu entspannen.
Sophie konnte nicht begreifen, wieso man sich beim Telefonieren so sehr aufregen konnte. Und der Sinn der Arbeit entging ihrem Verständnis völlig. Mit jedem redete ihr Vater – nur mit ihr nicht.
So seinem Rücken zugewiesen, zuckte sie mit den Schultern, ließ Papier und Stifte auf dem Boden liegen und öffnete lautlos die Tür aus dem Büro.
Der Flur war offen und hell. Reines Tageslicht mischte sich unter elektrisches kaltes Leuchten. Etwas verträumt schlenderte sie umher und wurde von der seitlichen Fensterfront magisch angezogen. Mit der Hand stets an einer Wand entlang schleifend, näherte sie sich der lichtdurchfluteten Scheibe.
Ein blauer Himmel lag über den Dächern der Häuser, von denen einige im Grund zu versinken schienen. Keiner der sichtbaren Häuser ragte bis dorthin, wo das kleine Mädchen sich die Nase an der dicken Glasscheibe platt drückte. Sie mochte es zu sehen, wie die Autos wie bunte Ameisen sich mit ihren rot aufglühenden Augen durch die schmalen Gassen schlangen und beinahe lückenlose Reihen bildeten.
Vor ihrem Gesicht wurde das Glas weiß und ließ die Stadt nur noch schemenhaft erkennen. Ihr Atem ging schneller und sie hauchte immer kräftiger gegen die Scheibe, bis schließlich ein großer Kreis aus kondensiertem Wasser dort erschien und ihre Nase und ihren Mund abbildete. Beglückt gluckste sie auf und tupfte zwei Augen in ihr Kunstwerk, lachte ihrem gegenüber zu, drehte sich um und hüpfte den Flur hinunter. Leise sang sie vor sich hin und klopfte mal an der einen, mal an der anderen Seite gegen die Wand und vergaß völlig, was ihr Vater ihr so oft gepredigt hatte.
Scheinbar ziellos zog sie durch die ihr so vertrauten Gänge des oberen Geschosses. Die Fenster beachtete sie schon lange nicht mehr und ihre Kreise zogen sich immer enger um den inneren Kern.
Plötzlich blieb sie stehen und ihr Summen verstummte. Sie hatte ein helles und kurzes Läuten vernommen und war blitzschnell wieder um die Ecke gesprungen.
Vorsichtig lugte sie hervor und sah eben noch, wie sich die chromsilbrigen Türen öffneten. Im Kontrast zu dem Licht im Flur, wirkte jenes, das aus der Kabine herausflutete leicht gelblich.
Ein großer schwarzer Schuh stahl sich hervor und bald darauf folgte ein schwarz bekleidetes Bein. Ein Mann stieg eben aus dem Fahrstuhl. In einer Hand trug er einen dunklen Koffer. Mit der anderen griff er sich an den Hals und rückte seine Krawatte zurecht. Als Einziges an seiner Erscheinung besaß diese Farbe. Blassblau, wie der Himmel an einem wolkenlosen Winternachmittag. Auch seine Frisur erfuhr eine rasche Überprüfung, bevor er eiligen Schrittes in einen der Flure verschwand. Das Mädchen hatte er dabei gar nicht bemerkt. Sein Blick war nicht für den Bruchteil einer Sekunde von seiner Richtung abgewichen.
Vorsichtshalber blieb Sophie dennoch hinter der Biegung stehen, wartete, bis die Schritte des Mannes endlich verhallten, und wagte sich dann erst hervor.
Mit weit nach oben geregtem Haupt blieb sie vor den silbrigen Türen stehen und beäugte misstrauisch die großen leuchtenden Zahlen über dem Rahmen. Eine große 1 stand da. Gleich daneben noch eine, gefolgt von einer Sieben. Ihr Herzschlag wurde wieder langsamer. Der Fahrstuhl war bereits viele Stockwerke tiefer. Beruhigt begann sie wieder zu trällern und spielte weiter. Vor dem Fahrstuhl gefiel es ihr am besten, denn hier hatte sie am meisten Platz. Ein großer Bereich, aus dem drei Gänge führten. Ohne ihrer Umgebung noch weiter Beachtung zu schenken, lief sie in großen Kreisen durch die Halle. Ihr Summen und ihre Schritte hallten wieder und verdrängten jedes andere Geräusch.
Die Gefahr vergessend, bemerkte sie zu spät, dass sich die Kabine sich abermals näherte. Erst das Läuten ließ sie verharren. Erschreckt blickte sie sich um. Jegliche rettende Ecke unerreichbar weit weg. Schon öffnete sich die Tür. Sophie stand immer noch so da, wie sie nach ihrem letzten Sprung das Gleichgewicht wieder gewonnen hatte. Mit nach hinten gerissenen Armen und nach vorne gebeugtem Oberkörper. Ein leicht grauhaariger Mann, etwas hager – wie die meisten in diesem Gebäude – trat hervor und verengte leicht die Augenbrauen, während er das Mädchen prüfend ansah. Dieses lächelte ihm frech entgegen und schlich sich an ihm vorbei, bevor dieser auf die Idee kommen könnte, sie nach ihren Eltern zu fragen. Oft genug schon hatte der Hausmeister sie zu ihrem Vater zurückgeschleppt. Der Mann drehte sich um, wollte etwas sagen, doch die Fahrstuhltür schloss sich bereits. Als hätten seine Gedanken den Faden verloren, schüttelte er den Kopf und ging weiter.
Sophie lehnte am hinteren Spiegel und sah nach oben in die hellen Leuchten. Erleichtert atmete sie aus. Der Förderkorb setzte sich in Bewegung. Das vertraute Gefühl des Fallens ergriff sie. Leise begann sie wieder zu kichern. In der Aufregung hatte sie nicht einmal bemerkt, auf die Taste sie gedrückt hatte und war enttäuscht als sich bald schon die Türen öffnete. 4 konnte sie dort lesen, gefolgt von einer 2. Das ging besser dachte sie und hupfte aufgeregt, um an den obersten der Knöpfe zu reichen. Gleich darauf zogen die dicken Seile sie wieder nach oben. Vergnügt ließ sie sich hinfallen und legte sich auf den Rücken. Es gab eh nur eine Art wie man Fahrstuhl fahren konnte – nämlich liegend. Jetzt spürte sie die ganze Kraft, fühlte, wie sie sich der Erde entfernte, fühlte gar das leichte Vibrieren des Bodens. Das war besser als die Wippe im Kindergarten.
Kaum hatte der Druck auf ihren Rücken nachgelassen, erkannte sie vor sich auch schon wieder die Empfangshalle des Geschosses, in dem ihr Vater arbeitete. Doch sie dachte nicht einmal daran auszusteigen. Eilig sprang sie auf und gab den Befehl ins Erdgeschoss zu fahren. Mit aufleuchtender Taste bestätigte die Kabine die Reise und ließ Sophie erneut fallen. Diesmal sprang sie gar und lachte jedes Mal auf, wenn sie die Platte von Neuem berührte. Sophie konnte ehrlich nicht verstehen, was die anderen in ihrer Klasse nur an der Schaukel fanden. Dieses Spielzeug war ihr viel lieber.
Kaum wollte das Programm die Pforte öffnen als Sophie ihre Meinung auch schon wieder revidierte und sich auf den Weg zu dem obersten Stock machte. Lange ging das nie gut, aber solange keiner sie davon abhielt, würde sie dies wiederholen. Ganze Morgende hatte sie so verbracht – meistens unterbrochen von dem schief lächelnden Haumeister, der es nie fertigbrachte, streng zu werden.
Auf einmal stand unten ein Mann, als der Fahrstuhl sie zum wiederholten Male entlassen wollte. Sie beäugte ihn skeptisch, befand dann, dass sie ihn nicht kannte, lächelte in frech an und stieg aus. Das musste sie so machen, anders würde der Hausmeister wieder einen Anruf bekommen. Mit der Zeit hatte sie herausgefunden, wie sie am längsten spielen konnte.
So also stand sie nun draußen, im Erdgeschoss und wartete etwas ungeduldig darauf, dass der Fahrstuhl erneut leer ihr die Türen öffnete. Stehend verging die Zeit viel zu langsam. Unbewusst begann sie zu wippen. Bis sie einen Schatten hinter sich wusste und gelähmt innehielt. Bedächtig schielte sie zur Seite und glaubte sich ertappt. Doch auch dieser Mann war ihr fremd. Ein wenig von seiner Erscheinung fasziniert begutachtete sie ihn von unten bis oben. Ein stattlicher, eher auffällig fülliger Mann in dunklem Kostüm und roter Krawatte stand neben ihr. Trotz seiner überschüssigen Kilos besaß sein Gesicht einiges an Schärfe und selbst Strenge im Übermaß. Sein Blick durchbohrte sie, während er auf sie herab sah und ihr Benehmen wortlos missbilligte.
Sophie musste schlucken und sah beschämt zur Erde. Am liebsten hätte sie sich in Luft aufgelöst. Der Mann war ihr unheimlich und flößte ihr gar Angst ein. Sie verkrampfte all ihr Muskel und verbot sich jede Bewegung. Sie wagte nicht einmal mehr, ihn anzusehen. Angespannt horchte sie auf jedes noch so leise Geräusch.
Dann endlich war es da, das Läutern auf das sie gewartet hatte. Sie war ihn los! Innerlich jubelte sie, riskierte aber immer noch keine Regung oder gar einen Ton anzudeuten. Der Mann tat zwei Schritte noch vorn. Bange Sekunden. Er blieb stehen. Mit schlimmer Vorahnung sah Sophie zu ihm auf. Seine Augen verengt, verzogen sich seine Brauen zusehens. Bald würde er fragen. Warum sie nicht einsteige? Was sie eigentlich hier machte? Das durfte nicht geschehen. Schon gar nicht bei diesem Unmenschen. Abermals schluckte sie und drängte sich an ihm vorbei in die nun eng erscheinende Kabine. Mit einem dominanten Lächeln im Gesicht trat der Mann hinterher und drückte bestimmend auf einen der Knöpfte. Sophie dachte nicht einmal daran, sich auch nur in die Nähe der Knöpfe zu wagen.
Noch nie hatte Sophie das Schließen der metallenen Türen so bedrohlich empfunden. In einer Ecke stehend, hielt sie den Spiegel im Auge und betrachtete voller Unmut den Mann in seiner dunklen Erscheinung. Breite Schultern strammten seinen Anzug. Der Käfig zog die Beiden auch schon aufwärts. Ob der Spiegel das Bild verzerrte? Sie spürte, wie ihre Angst wich. Der Fremde stand dicht vor der Tür. Den Blick gesenkt betrachtete dieser wohl seine Füße. Seine Hand fast zur Faust geballt, rieb er sich die Finger aneinander.
Sophie musste kichern, irgendwie taten das alle, wenn sie im Fahrstuhl waren. Erschrocken von ihrem Übermut schlug sie sich die Hände auf dem Mund zusammen und versuchte das Geräusch ungeschehen zu machen. Sie hielt den Atem an. Ihr Herz schlug ungewöhnlich heftig. Doch der Mann regte sich nicht. War er taub? Neugier verdrängte ihre Angst. Bedächtig schlich sie sich nach vorne. Ihre Schritte konnten nicht unbemerkt bleiben. Doch der Mann hob lediglich den Kopf und starrte auf die erleuchtete Anzeige über ihm. Seine Lippen bewegten sich stumm, als würde er zählen.
Ganz weit vorne stand der Dicke. Doch Sophie wollte ihm ins Gesicht sehen. Dabei wagte sie zu viel. Mit ihrer Schulter streifte sie sein Bein. Die Hand des Mannes zuckte kurz. Sein Blick senkte sich leicht und blieb kurz an der metallenen Tür haften. Steif rieb er sich mit seiner zusammengezogenen Hand, dort wo er berührt worden war. Etwas verloren wandte er seinen Kopf zur anderen Seite und erblickte sein Gesicht im Spiegel. Irritiert stellte er fest, dass er nicht allein war, und betrachtete ruckartig den Boden unter ihm. Aber dort stand nun Sophie mit breit grinsendem Gesicht. Verlegen, wegen der sich anbahnenden Vertrautheit flüchtete sein Blick in die für das Mädchen unerreichbare Höhe. Enttäuscht schlängelte sich das Mädchen wieder nach hinten in die Kabine und betrachtete hoffnungsvoll die Knöpfe, die sie bald wieder zu betätigen gedachte. An rasante Fahrten dachte sie, während der Fahrstuhl abrupt stehen blieb und sich die Flügel öffneten. Eilends hob der Mann seinen schwarzen Schuh hinaus. Zupfte kurz an seiner Krawatte rum und verzog sich in einen der Flure. Der Fahrstuhl war Sophies Reich und nun hatte sie ihn wieder für sich ganz allein.

Der Baum, der Zeuge

Ein satt grüner Teppich zog sich den Hügel hoch. Zart streichelnd fuhr der Wind zwischen den langen Grashalmen hindurch, welche sich müde nach unten bogen. Oben schlängelte sich ein Fahrradweg an einer Weide entlang. Das Grau, nur ein hauchdünner Faden, verbarg es sich schon nach wenigen Metern hinter der gedeienden Natur und wurde für das Auge unsichbar.
Ein einzelner knorriger Baum wachte windschief am Wegesrand. Seine alten Äste ragten wie greifende Hände über eine Bank. Nur wenige Blätter zierten den Zeugen längst vergangener Tage und ließ den Griff noch gieriger erscheinen.
Das Holz von der Witterung rau, hatte die Bank ihre schönsten Tage bereits hinter sich. Wie ein altes Paar schwiegen Bank und Baum selig, lauschten dem Wind, sonnten sich in den letzten Strahlen des Tages. Alt waren sie. Und nichts hatte sie jemals getrennt. Viele Sommer standen sie hier und genau so viele Winter hatten sie gemeinsam überstanden. Doch die Zeit hatte ihre Spuren an ihnen hinterlassen. Die Rinde des Baumes war rissig geworden. Zeichen waren in sie geritzt. Tief waren die Spuren, doch die Schrift war kaum noch zu lesen. Zwei Buchstaben waren es, umrahmt von einer seltsam geschwungenen Linie.
Der dünne, schon etwas länger gezogener Schatten des Baumes fiel nach hinten auf die Weide und ließ den Mann auf der Bank unberührt. In dessen Hand ruhte eine Blume. Eine einzelne nur, und obwohl die Farbe der Blume noch hell leuchtete, wirkte sie genau so wächsern, wie die Haut des Mannes, welcher sie mit seinen dürren und schwachen Fingern hielt.
Auch er war alt – der Mann. Fast so alt wie der Baum hinter ihm. Und auch er trug die Spuren eines langen Lebens. Und nun saß er da, scheinbar friedlich. So wie so oft in den letzten Jahren. Und immer seine Blume in der Hand. Eine Tulpe war es. Rötlich-gelb leuchtete sie, doch aus einem unerklärlichen Grund hatte sie vergessen zu welken. Nur trocken war sie gewurden und leistete dem Alten treu Gesellschaft. Seine Frau hatte diese Blume immer gemocht. Nicht rote Rosen wie andere, nein, diese stacheligen Verführerinnen waren ihr unangenehm. Eine Tulpe aber hatte etwas zartes an sich.
Und diese eine, diese nicht welkende, war übrig geblieben von dem letzten Strauß den der Mann ihr geschenkt hatte. Alle waren sie verwelkt, nur diese eine nicht. Und sie blieb bei ihm, nun da seine Frau es nicht mehr konnte.
Er hatte sie geliebt, er liebte sie immer noch. Dies hier war ihr Platz gewesen. Viele Sommertage hatten sie hier verbracht. Bis vor fünf Jahre noch, der Baum ihr Zeuge. Und nun waren sie alle alt. Und sie hatten nur noch sich. Der Baum die Bank, der Mann die Blume in der Hand.
Seit damals, dem Tag als sie starb, war er immer hier her gekommen, wenn er ihr nah sein wollte. Die Blume stets in der Hand, saß er dort und betrachtete den feurigen Sonnenuntergang. So wie seine Frau ihn stets in seinen Armen genossen hatte.
Auf dem Friedhof hatte er sie noch nie besucht. Denn dafür hätte sie tot sein müssen, und das war sie nicht. Nicht solange er noch lebte. Und das tat auch sie, tief in seinem Herzen, dort wo die Zeit ihr nichts anhaben konnte. Nur ihr Körper war nicht mehr. Er vermisste ihre Wärme, nur die Blume war geblieben. Und an diesen langen Nachmittagen trank er an ihrem Anblick die Liebe seiner Frau, wie aus einem Kelch. Hier konnte er ihr nah sein, von der schwächer werdenden Abendsonne gewärmt.
Wieder einmal kroch die Sonne rot glühend und schläfrig unter den Horizont, auf der anderen Seite des Tals, hinter einem fernen Hügel. Der Mann auf der Bank hatte die Augen geschlossen. Kaum merklich hob das friedliche Atmen seine Brust. Diese Besuche waren alles was er noch hatte. Und oft schlief er ein, geküsst von der Erinnerung, und umarmt von der Liebe, die niemals erlosch. Selig waren diese Momente, kostbarer als alles andere. Der Baum, ihr Zeuge, ein treuer Freund im Rücken.
Langsam entwand sich die Sonne dieser Welt. Nach und nach verschmolzen die langen Schatten und die Farben verblassten zu grauen Konturen, während die Sterne mit ihrem kühlen Licht auftauchten.
Als der Mond aufging, eine dünne Sichel, und das Land in silbriges Licht tauchte, saß der Mann immer noch auf der Bank. Der Wind kaum noch spürbar, wehte die letzte Wärme aus dem Tal empor.
Dann sank der Kopf des Mannes nach vorn, ganz so als schliefe er. Und nun würde er seine Frau doch auf dem Friedhof besuchen. Seine Blume in der Hand, und nie wieder von ihr gehen.

Der falsche Tag

Im Augenwinkel sah er es kommen. Als er realisiert hatte, was geschehen würde, wusste er bereits, dass es unausweichlich war. Sein Griff um das Lenkrad wurde fester. Sein Fuß sprang auf die Bremse.
Seine Schultern zogen sich zusammen. Sein Auto stand und er wartete auf den Knall. Wie verrückt schossen Gedanken durch seinen Kopf. Warum hatte er nicht achtgegeben? Er sah die vorletzte Ampel, die ihn orange-rot vorbei gewunken hatte. Wäre er da stehen geblieben, wäre er nun nicht hier.
Ein lauter Knall ertönte und ein kräftiger Ruck durchfuhr seinen Körper. Sein Auto drehte sich und wurde leicht seitlich gedrückt, während ein schwerer Mittelklassewagen seinen schwarzen Porsche verunstaltete.
Von hinten hörte er eine Hupe lärmen. Ein Unbeteiligter suchte Aufmerksamkeit und musste seinen unnötigen Kommentar abgeben. Dieser Fremde war ihm auf Anhieb unsympathisch. Das zeigte er ihm auch deutlich, als er aus seinem Porsche ausstieg und ihn vorbei wank. Zu dumm, um vorbei zu fahren! Aber Hauptsache Hupen und Glotzen. Obwohl dieser Gaffer stehen blieb und das Fenster runter ließ, ging der Mann auf die andere Seite seines Wagens und betrachtete mit reichlich Unbehagen den Schaden. Doch er konnte nicht viel erkennen. Die dunkelblaue Schnauze des Eindringlings drückte gegen den Motorblock.
Er spürte, dass ihn jemand von hinten anstarrte, und blickte auf.
Eine Frau stand neben ihrem Auto und blickte finster drein.
„Danke der Nachfrage. Mir geht es gut!“
„Gut“, antwortete er und wandte sich seinem Sportwagen zu.
„Gut? Sie denken wohl sie können sich mit ihrem Geld alles kaufen. Sie spinnen doch! Wollen bei voller Fahrt über eine andere Fahrspur hinweg abbiegen und sagen dann, dass alles gut ist?“
„Ist ja nur Blechschaden, das regelt die Versicherung. Für den Rest geht es ihnen gut!“
Ihre Wut kochte hoch, doch sie war so perplex, dass sie ihre Worte nicht geordnet herausbringen konnte.
„Das Gespräch hat für mich den Reiz verloren. Hier meine Karte. Schicken sie mir die Rechnung. Ich kontaktiere meinen Agenten, dass er den Schaden schnellst möglichst begleicht. Danke!“
Er wandte sich ab.
Der Pförtner war inzwischen aus der Bank herbeigeeilt.
„Ah, Herr Günther, gut, dass sie kommen.“ Der Fahrer ging auf den Pförtner zu. Dieser war noch außer Atem und blickte sich irritiert um.
„Füllen sie für mich den Unfallbericht aus.“ Er drückte ihm den Wagenschlüssel in die Hand. „Vielleicht versuchen sie auch den Wagen zu rücken. Er steht etwas ungünstig.“
Die Frau blieb ungläubig stehen und wirkte verwirrt, als der Pförtner die Angelegenheit regeln wollte.
Derweil wartete der Mann auf den Fahrstuhl. Im obersten Geschoss wartete sein aufgeräumter Schreibtisch auf ihn. Er riskierte einen flüchtigen Blick nach draußen, doch von dem Geschehen dort unten war nichts zu sehen. Er schüttelte den Kopf. Ärgerlich war das schon. Er öffnete sein Notebook und feilte an seiner Rede, die er am späten Nachmittag halten würde. Eckdaten glich er mit dem Berichtheft ab, den seine Abteilung angefertigt hatte. Nachdem er einige Seiten durchgeblättert hatte, merkte er, dass seine Änderungswünsche nicht umgesetzt worden waren.
Ungeduldig sprang er auf. Seine Sekretärin war eben eingetroffen und hing ihren Schall um die Jacke am Bügel.
„Guten Morgen Herr Münsner.“
„Morgen.“ Mit zügigen Schritten marschierte er an ihr vorbei.
Er konnte nicht sehen, dass sie die Brauen krauszog. Sie wusste um seine Launen. Und sie wusste, dass heute kein guter Tag war.
„Herr Künbach?!“ Er stürmte hinter der Trennwand hervor. Er blickte sich um, doch dieser war noch nicht da.
Und der will mein Nachfolger werden?, dachte er und drehte auf der Ferse um.
„Frau Rietsche bestellen sie Herrn Künbach zu mir, sobald er gedenkt aufzutauchen.“
Bevor er seinen Tisch erreichte, eilte der Bericht ihm voraus und landete zielgenau neben seinem Laptop. Ihm blieb nur noch Zeit stumm über sich zu fluchen, bevor ein Schäppern ertönte.
„Ach Scheiße!“ Sein Arm machte eine wütende Geste, als die Tasse über den Boden kullerte. Dann wank er ab und stellte sich zur Fensterfront.
Keine Sekunde später stand seine Sekretärin im Raum. Sie sah, was geschehen war, und wischte den Kaffee auf. Frau Rietsche war seit sieben Jahren seine Sekretärin. Sie wusste, was die Stunde geschlagen hatte, und sah ihn eine Weile an, während er bewegungslos vor dem Fenster stand. Nun war es auch fast schon vier Jahre her, dass seine Frau ihn verlassen hatte. Sie wusste warum. Sie empfand Mitleid und ließ ihn allein.
Um Viertel nach acht tauchte Herr Künbach auf. Er war Mitte vierzig. Seine breiten Schultern unterstützten sein selbstbewusstes Auftreten. Als er am Sekretariat vorbei schritt, fing Frau Rietsche ihn ab und flüsterte ihm schnell etwas zu, drückte ihm eine Tasse Kaffee in die Hand und wünschte ihm viel Glück.
Er klopfte gegen die geöffnete Glastür und trat vor den Schreibtisch seines Vorgesetzten. Er wartete, bis dieser ihm Aufmerksamkeit schenken wollte und von seinen Unterlagen aufschaute.
„Herr Künbach!“ Die Stimme klang donnernd.
„Herr Münsner, Frau Rietsche bat mich, ihren Kaffee mitzubringen.“
„Sicher“, ein Zucken umspielte seine Lippen. „Mit Kaffee bringen allein verdienen sie sich aber nicht meinen Stuhl.“
Herr Künbach nickte zustimmend, ließ sich aber davon nicht beeindrucken.
Seine Beförderung war beschlossene Sache und Herr Münsner war daran nicht ganz unbeteiligt, wie er aus anderen Kreisen vernommen hatte. Herr Münsner hatte es geschafft innerhalb kürzester Zeit einige beachtliche Karrieresprünge hinzulegen. Meistens war er der Erste, der kam und nicht selten begegnete er dem Nachtwächter, wenn er ging oder ließ sich von diesem das bestellte Essen bringen, wenn er die Nacht über im Büro blieb. Das Sicherheitsprotokoll verbot den Lieferdiensten, die oberen fünf Etagen zu betreten. Das war eine der vielen Regeln, die er selbst eingeführt hatte. Datensicherheit und Effektivität waren seine größten Sorgen. Er hatte dem Unternehmen seinen Stempel aufgedrückt. Dabei war er selbstverständlich auf reichlich Widerstand gestoßen. Doch die meisten seiner Widersacher arbeiteten heute bei Mitbewerbern. Wer klug war, hatte sich auf seine Seite gestellt und ist in seinem Sog die Karriereleiter raufgefallen.
Herr Künbach war einer davon.
„Sie kommen spät!“
„Verzeihen sie der Verkehr hatte heute gestaut.“
„Dann fahren sie Bus, wenn sie nicht Autofahren können!“
Herr Künbach schluckte seine Antwort hinunter.
„Sie haben noch die Notizen zum Bericht?“ Herr Münsner legte den Bericht so, dass Herr Künbach ihn erkennen konnte, und passte auf, den Kaffee diesmal nicht zu treffen.
Künbach nickte. Er hatte gelernt, dass sein Gegenüber in dieser Stimmung auf jedes Wort allergisch reagieren konnte.
„Dann sorgen sie dafür, dass sie auch eingearbeitet werden. Bis spätestens 14 Uhr liegen 20 Exemplare eines makellosen Berichtes auf meinem Schreibtisch!“
Diesmal musste Herr Künbach schlucken. Er wusste, dass es nicht sein Fehler gewesen war. Eine Ausrede, sei sie noch so begründet, würde ihm nur eine Schlinge um den Hals legen.
Er nickte, nahm den Bericht und ging einige Schritte rückwärts.
Herr Münsner wandte sich seinen Unterlagen zu. Herr Künbach war heilfroh den Raum verlassen zu können.
„Und Herr Künbach?“
Der Gerufene kniff die Augen zu, drehte sich dann aber seitlich.
„Und bringen sie sich ein Exemplar mit. Ich möchte sie dabei haben, wenn ich denen sage, dass sie ab nächster Woche dieses Projekt übernehmen.“
Herr Künbach nickte abermals und beeilte sich hinaus zu können.
Wenig später stand unangekündigt eine Person im Türrahmen.
„Habe ich mich nicht klar ausgedrückt?“ Er ließ sich nicht herab, von seiner Arbeit abzulassen und markierte eine wichtige Passage.
„Verzeihen sie.“
Diese Stimme hatte Herr Münsner noch nie im Büro vernommen und so blickte er doch auf und erkannte den Pförtner, der unbeholfen da stand.
„Wenden sie sich an meine Sekretärin. Wieso glauben sie wohl bezahle ich die?“
„Verzeihen sie.“ Der Pförtner wünschte sich in Luft aufzulösen und suchte vergebens nach Worten.
Herr Münsner wollte so wenig Zeit wie möglich verlieren und wank ihn hinein. Je schneller dieser sagte, was er wollte, je schneller war er wieder weg.
„Verzeihen sie, ich habe mir erlaubt die“ er schaute kurz aus dem Fenster. „Angelegenheit selbst zu regeln. Ich wollte so wenig wie möglich Aufsehen erregen.“ Er nickte in Richtung Sekretariat.
Herr Münsner lachte erfreut.
„Mal einer, der mitdenkt!“ Herr Münsner stand auf und ging auf den Pförtner zu. „Und?“
„Und der Wagen ist in der Werkstatt.“
Herr Münsner nahm die Visitenkarte, die der Pförtner ihm reichte.
„Ein angemessenes Ersatzauto können sie erst gegen 15 Uhr vorbei bringen.“
„Danke, ich rufe selbst da an und spreche das mit denen ab.“ Er steckte dem Pförtner 50 Euro zu und komplimentierte ihn mit einer Geste hinaus.
Der Pförtner hatte ihm ermöglicht der Blöße zu entgehen und so wollte er die Gelegenheit nutzen und rief sogleich die Werkstatt an, sie sollten ihm das Auto nach Hause bringen und den Schlüssel durch den Briefschlitz in der Tür schieben.
Daraufhin kreisten seine Gedanken um wichtigere Dinge. Der Morgen und der Nachmittag verflogen so ereignislos, wie an jedem anderen Tag auch. Er ärgerte sich und ärgerte sich, dass er sich ärgerte und seine einzige flüchtige Freude war, dass er alle dazu brachte, mehr oder weniger zu spuren.
Die Hektik, die ihn in dieser Woche beflügelte, genoss er in vollen Zügen. Sehr zum Leidwesen aller, die ihn an diesem Tag zu sehen oder zu hören bekamen.
Es war spät am Abend, als er aus dem Fahrstuhl in die Tiefgarage trat. Diese war zu dieser Stund fast leer und erst da wurde ihm wieder bewusst, dass sein Wagen heute nicht auf ihn warten würde.
Gleichgültig zuckte er mit den Schultern und nahm der Seitenausgang aus der Tiefgarage.
Ein kühler Wind empfing ihn, als er auf den menschenleeren Bürgersteig trat. Dann würde er eben ein Taxi nehmen. Doch dazu war er auf der falschen Seite der Bank. Er ging in Richtung Taxistand, verlor dann aber die Lust, so früh zu Hause zu sein. Eigentlich, so dachte er, würde die frische Luft ihm auch einmal gut tun. Er überquerte die breite Straße und war nach wenigen Hundert Schritten im Stadtpark. Dieser würde ihn mit einigen Unterbrechungen und einem kleinen Umweg nach Hause führen.
Dass er den ersten Teil bereits hinter sich hatte, wurde ihm bewusst, als er eine weitere Hauptstraße überquert hatte und den nächsten Wald betrat.
Sein Tempo zeigte die gleiche Ungeduld, die er auch im Büro an den Tag legte.
Als er auf seine massive Armbanduhr sah, erklärte diese ihm, dass er mit dem Taxi kaum schneller gewesen wäre. Doch aus irgendeinem Grund wollte ihn dieser Umstand an diesem Tag nicht beruhigen.
Deshalb tat er, was er seit langer Zeit nicht mehr getan hatte. Er wollte sich zwingen seine Umgebung zu genießen. Und tatsächlich, er hörte fremd gewordene Geräusche. Das Rufen eines Vogels, ein Rascheln eines Tieres. Er betrachtete die dicken Stämme der Bäume und war selbst verwundert, dass er dabei nicht als Erstes an den Deal mit den Südamerikanern gedacht hatte. Seine Gangart änderte sich aber nicht.
Erst als sein Fuß gegen etwas stieß und ein weicher Gegenstand leicht vom Boden abhob und fast geräuschlos vor ihm landete verharrte er. Unentschlossen schaute er im Dunkeln auf den Pfad vor sich, wo sich undeutliche Konturen emporhoben. Er bückte sich und hob einen verloren gegangenen Teddybär auf. Dieser war kuschelig weich. Durch die Abendkühle war er leicht feucht geworden, doch lange hatte er noch nicht hier gelegen. Der Mann hielt ihn mit beiden Händen vor sich und betrachtete ihn.
Plötzlich wurde ihm bewusst, was er tat und so setzte er den Teddy am Wegesrand ab und ging weiter. Nach vier Schritten blieb er stehen. Er drehte sich um und sah hinunter zum Bär, der nach vorne gekippt war.
Der Mann kehrte um und nahm das Kuscheltier auf den Arm.
Wieder ging er weiter, aber diesmal viel langsamer. Er wusste er würde den Teddybär nicht mitnehmen können. Er ging bis zur nächsten Bank und setzte sich hin. Er drückte den Teddy fest gegen seine Brust. Welches Mädchen mochte den verloren haben? Er wusste, wie traurig es nun sein würde. Tränen rannen seine Wangen runter. Er hatte auch eine Tochter. Er hielt den Teddybär eine Weile fest.
Dann setzte er ihn vorsichtig neben sich auf die Bank. Er stand auf und ging. Er ließ den Teddybär zurück. Nur seine Tränen nahm er mit. Auch seine Trauer begleitete ihn. So wie seine Gedanken an seine Tochter. An diesem Tag war es vier Jahre her, dass sie gestorben war. Giftige Beeren.

Die Glaswand

Samstag, stand es groß und schwarz auf dem Kalender. Drunter groß eine Zahl, bedeutungslos, denn sie änderte nichts. Der Monat verriet teilnahmslos den Beginn des Frühlings, welcher sich noch hinter einer gräulich leuchtenden Wolkendecke versteckte. Recht früh war es noch. Der Morgen angebrochen wie die Tage davor, die Wochen, die Monate. Es bedeutete nichts. Nur Zahlen wie die auf dem Schreibtisch. Gefangen und doch mächtig in den aufgehäuften Akten. Leblos und ergreifend, fesselnd lagen sie da und taten unschuldig. Aufgeräumt sah der Schreibtisch aus. Die Lampe darauf glühte nicht, einzig das große Fenster spendete ein kaltes fahles Licht. Dennoch saß ein Mann davor, sinnend, und starrte auf die dicke Holzplatte. Sein Gesicht müde, versuchte er es mit reiben zum Leben zu erwecken. Doch sein Blick blieb kraftlos, hilflos suchend. Wochenende war es, doch das kannte er nicht. Er wollte arbeiten. Die Akten wälzen, das musste er, denn die nächste Woche kam gewiss. Aber er bewegte sich nicht. Fand den Anfang nicht. Saß einfach nur da, makellos sein Erscheinen, gerade sein Rücken, sah er aus, als würde er jeden Augenblick loslegen. Doch die digitale Uhr zerstückelte die Zeit in Zahlen, leblos, bedeutungslos, und es änderte sich nichts. Die Wände ansich weiß, wirkten sie im matten Licht grau und kalt. Groß war der Raum und ließ alles leer erscheinen. Die weichen Ledersessel, verloren im Zimmer umher stehend, verteidigten sie mächtig den makellosen Eindruck von Luxus. Doch die Welt bekam Risse. Pochend schlug die Leere ihre Brechen in diesen Schein und drückte schwer auf den kalten Glanz. Der Mann hatte seinen Kopf in seine Hände sinken lassen und hielt sich mit ihnen die Ohren zu, als wollte er die Schreie ersticken, welche nur er hören konnte. Sie schrien nach ihm, als wollten sie ihm etwas sagen. Doch er wusste was diese Stimmen sagen wollten, und er wollte es nicht hören. Was wussten die schon – diese rastlosen Stimmen, die ihn auch in seinen Träumen verfolgten. Sie wollten ihn bremsen. Voller Neid waren sie wegen seinem Erfolg. Kein Wunder dass sie so verzweifelt schrien. Er verharrte, genau wie seine Einrichtung, beleuchtet vom fahlen Licht welches von den Wänden zurück geworfen wurde. Sein Rücken war dem Fenster zugewandt und so konnte er nur in seinen endlosen Raum hinein starren. Doch auch den sah er nicht. Er bedeutete ihm nichts. Endlich stand er auf. Langsam, als wäre er ein alter Mann. Sein Gesicht verzerrte sich zu einem tonlosen Gähnen, während er seine Arme auseinander riss als versuche er aus seinem Körper auszubrechen. Als er sich umdrehte stand er gleich vor dem Fenster, welches bis an die weit entfernte Decke reichte. Viele Meter lang war dieses und ersetzte eine ganze Wand. Weiß erschien der Himmel, stark durchflutet von Licht, die grauen Wolken, ohne dass die Decke irgendwo aufriss. Der Blick des jungen Mannes glitt langsam von einer Seite zur anderen. Gleichmäßig die Bewegung, unberührt von dem was er sah. Kein Hindernis stellte sich ihm in den Weg, nichts das seinen Blick fest halten konnte. Die Augen zugekniffen, geblendet von der gleichmäßigen Flut weißen Lichts, stand er da, leblos, wie die Sessel im Raum hinter ihm. Nur die Uhr wechselte ihr Gesicht, krampfhaft an der Zeit klammernd, die doch wie Wasser zerrann. Draußen eine weite Wiese, nach dem Winter noch ungemäht, war sie umrahmt von Hecken, einige Bäume standen verloren darin. Endlich schien der Mann etwas zu bemerken. Ihm fiel auf wie der Wind in den Ästen spielte. Er hielt den Atem an, horchte, doch das Rascheln der tänzelnden Blätter fehlte. Er strengte sich an, doch er fühlte nichts. Er stand einfach nur da. Starrte raus, und sah nichts. Es war ihm alles fremd, und so fern. Er versuchte sich zu erinnern, doch es blieb ihm verborgen. Die Welt da draußen, er hörte sie nicht, er fühlte sie nicht. Nah am Fenster wackelte ein Ast. Ein Vogel, eben gelandet, trällerte sein Lied. Doch nur der Schnabel bewegte sich. Das Fenster schluckte jedes Geräusch. Stummfilm, sein Leben, es war draußen, ausgeschlossen. So fern und unerreichbar wie jedes Gefühl. Wie ein Zeitzeuge starrte er genauso fasziniert wie gelangweilt durch das Glas. Sein Blick, wie der eines Mannes, der aus weiter Ferne die Welt wie durch eine Scheibe betrachtet. Gefangen in der Nüchternheit, der Leere seines Hauses. Wieder bewegte sich was. Ein Junge tanzte lachend auf dem Rasen. Wochenende, sein Sohn wusste das, und spielte mit dem Drachen. Ein Geschenk aus einer lange vergangenen Zeit. Hoch flog er, lebhaft spielten sie. Der Drache, sein Sohn und der Wind. So wie er es getan hatte – früher – in einer anderen Welt. In einer, in der er den Wind noch gespürt hatte. Als wäre es nur eine Erinnerung stand er da und starrte hinaus. Gefangen wie ein Fremder in seinem eigenen Körper. Sinnend drehte er sich um, sah den Schreibtisch. Das Gesicht der Uhr schrie ihn an. Eine andere Stimme war es. Mächtig, beide kämpften, wie Teufel und Engel auf seiner Schulter. Dann zog er seinen Stuhl hervor und setzte sich. Nahm wahllos eine Akte in seine Hand. Welche, war bedeutungslos. Ein letztes Mal drehte er sich um. Der Himmel leuchtend weiß blendete ihn. Wie einen Schatten sah er seinen Sohn lachen und weinen, sah wie dieser Glück empfand, würde es gerne mit ihm teilen, ihn in den Arm nehmen, aber er konnte es nicht, weil die Scheibe ihn zurück hielt. Und wenn er es trotzdem versuchen würde, würde er nur die Kälte des Glases spüren. Er würde erdrückt werden, weil die Welt so voll und er selbst so leer war.

Sophies Referat


Sophies Handy vibrierte auf dem Nachhauseweg. Anna wollte wissen, wann sie sich treffen könnten. Was das bringen sollte wusste Sophie nicht. Schließlich hatten beide keine Ahnung, wie sie das angehen sollten. Genervt steckte sie ihr Handy weg, ohne zu antworten. Das konnte auch warten. Schließlich hatten sie jetzt erst einmal Ferien. Sie war immer noch wütend, dass ihr Geografielehrer ihnen dieses Referat in der letzten Stunde aufgebrummt hatte, um ihnen die Ferien zu vermiesen. Typisch Lehrer, als würden sie nicht wissen, dass Ferien auch Ferien sein sollten.
Sie kam rein und ging gleich in ihr Zimmer und verstaute sorgsam ihre Schultasche unter dem Schreibtisch, bevor sie in die Küche ging.
„Na mein Schatz“ Ihre Mutter war gut gelaunt und kochte Sophies Leibgericht.
Das munterte sie ein wenig auf. Mit einem hörbaren Seufzen ließ sie sich auf der Eckbank am Küchentisch nieder.
Ihre Mutter lächelte ihr zu und nickte in Richtung Schlafzimmer. Sophie schüttelte den Kopf und machte ihrem Frust Luft.
„Nicht, dass ich aus Versehen an Schule denken muss“, meinte Sophie und lachte gespielt gequält. Normalerweise landete ihr Rücksack unweit der Haustür in einem Eck, wenn sie aus der Schule kam.
„Hast ja jetzt auch Ferien“, besänftigte ihre Mutter Sophie.
„Sag das mal meinem Lehrer!“, antwortete sie und ließ ihren Ärger mit einem „mhh lecker“ verfliegen, als ihre Mutter zwei Teller Spaghetti auftischte und sich neben sie setzte.
Mit vollem Mund fragte sie ihre Mutter aus, was sie alles im Urlaub machen konnten.
Morgen früh war Abfahrt. Sie hatte aber noch Einiges zu packen. Dabei galt es zwei Probleme gleichzeitig zu lösen – Auswahl treffen und alles in den Koffer bekommen. Wer auch immer dieses Universum erschaffen hatte, dachte Sophie, hätte für dieses Dilemma eine Lösung vorsehen sollen.
Gegen sieben kämpfte sie sich mit ihrem Koffer die Treppe runter. Die letzten fünf Stufen ging es schneller als beabsichtigt und sie war erleichtert, als der Koffer nicht aufsprang, als dieser unten landete. Es hatte einiges an Gewalt gekostet ihn zu schließen.
„Das klingt gefährlich“, lachte ihr Vater aus dem Wohnzimmer. „Lebst du noch?“
Sophie rollte den Koffer in den Flur, bevor sie zu ihm ging und sich der Länge nach auf die Couch legte. Sie gab ein erschöpftes Seufzen von sich, während ihr Vater im Sessel daneben ihr liebevoll den Rücken kraulte und gleichzeitig fernsah.
„Man hat es schon schwer“, stichelte ihr Vater.
Brummend gab sie ihm recht.
Eine Weile sprach niemand. Ihr Vater schaute die Nachrichten, während Sophie eigenen Gedanken nachging. Für die Probleme der Welt hatte sie wenig übrig. Die Meisten davon waren ohnehin menschgemacht und Sophie hatte noch nie verstehen können, wieso die Menschen so selten dämlich sein konnten.
Ohne besonderes Interesse an dem, was sie sah, blickte sie dennoch in Richtung der flimmernden Bilder. Sie sah Bilder von Krieg und Zerstörung, Politiker die andere beschimpften böse zu sein und Opfer, die nicht verstanden, was vor sich ging – Bilder, wie man sie jeden Tag sah. Eben nichts was wirklich neu war.
Plötzlich kam ihr ein Gedanke, als sie einen dicken Mann sprechen sah, der den Eindruck erweckte wichtig zu sein.
„Papa?“ Vielleicht konnte er ihr helfen, schließlich kannte er sich mit vielen Dingen aus, die ihr nicht wirklich sinnvoll erschienen.
„Mein Kind?“ Ihn interessierten die Nachrichten heute auch nicht, sonst hätte er den Kopf geschüttelt.
„Was ist Ökodumping?“
Ihr Vater war verwirrt. Er blickte sie verwundert an und wandte sich dann einige Augenblicke dem Fernseher zu, als könnte er sich daran erinnern, worauf Sophie ihre Frage bezog. Ihm fiel aber kein Beitrag ein, der damit zu tun hatte.
„Wieso? Was soll damit sein?“
„Ach, Anna und ich sollen ein Referat darüber halten.“
Ihr Vater sah sie überrascht an.
Sie zuckte mit der Schulter.
„Ich glaube meinem Lehrer war langweilig.“
Er lachte amüsiert aber leise, um Sophie nicht zu kränken.
Er überlegte eine Weile. „Das ist eigentlich einfach.“ Er suchte nach einem Beispiel, mit dem er es erklären konnte.
„Aber das ist ein sehr ernstes Problem.“ Er machte den Ton vom Fernseher aus. Es machte ihm Freude, wenn seine kleine Prinzessin sich für solche Dinge interessierte. Früher hatte sie ihn immer mit Fragen gelöchert, doch in letzter Zeit hatte das nachgelassen.
Umso mehr gab er sich nun Mühe, es ihr verständlich zu machen.
„Du weißt, was Dumpingpreise sind?“
„Das ist, wenn etwas ganz billig ist oder?!“
„Genau. Das ist, wenn ein Händler versucht den anderen im Preis zu unterbieten, damit er die Produkte verkauft und nicht der Andere.“
„Aber dann kann der ja auch den Preis senken?“
„Genau und schon sind wir in einem Teufelskreislauf, wenn einer unbedingt viel verkaufen möchte. Er senkt den Preis, der andere zieht nach, dann senkt der eine wieder den Preis.“
„Aber das ist doch gut, dann bekommen wir die Sachen billig.“
„Ja, aber das ist nicht immer gut. Wir bekommen nämlich auch billige Sachen.“
„Sag ich ja und das ist doch gut.“
„Wie weit wird der Preis denn sinken?“
„Soweit wie es geht“, lachte Sophie und freute sich, während sie sich das gute Geschäft vorstellte, das sie machte, wenn sie ein Schnäppchen fand.
„Nun, erst einmal soweit bis einer nicht billiger produzieren kann. Das stimmt.“ Er sah seine Tochter nickend an. Dann wartete er, bis ihr Lachen nicht mehr ganz so heiter war und sie bereit war, darüber nachzudenken.
„Dann steht der eine mit dem höheren Preis vor einem Problem“, fuhr ihr Vater fort.
Sophie überlegte und versuchte zu verstehen, warum ihr Vater das nicht lustig fand. Sie versuchte sich in die Lage des Verkäufers zu versetzen.
„Er verkauft dann nichts und geht pleite“, meinte Sophie und zog die Stirn kraus.
„Oder?“ Ihr Vater ermutigte sie, den Gedanken zu Ende zu führen.
„Oder er versucht auch billiger zu produzieren.“
„Und wie soll das gehen?“
Sophie zuckte mit der Schulter und sah ihren Vater an.
Doch dieser wollte, dass seine Tochter es selbst aussprach. In ihrem Unterbewusstsein wusste sie es längst.
„Er wird billigere Materialien nehmen.“
Ihr Vater nicht zustimmend.
„Schlechtere Qualität?!“ Sophie sprach es leicht gequält aus.
„Und der Andere dann?“
„Der auch?“
„Giftige Stoffe?“, fragte ihr Vater.
„Nein!“, antwortete Sophie, ohne zu zögern, und war entrüstet. „Das darf er nicht, dafür gibt es Gesetze.“
„Darf er denn die Umwelt verschmutzen, wenn er dadurch billiger produzieren kann?“, fragte ihr Vater weiter.
„Nein, auch dafür gibt es Gesetze!“ Sophie fragte sich, wie ihr Vater nur auf so merkwürdige Ideen kam.
„Gibt es die?“
„Natürlich! Das muss so sein.“ Sie richtete ihren Oberkörper auf und blickte ihren Vater finster an.
„Viele Dinge müssen so sein. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass sie so sind.“ Ihr Vater sprach beschwichtigend und fuhr ihr liebevoll über den Rücken.
„Ja, aber“ Sophie regte sich auf.
„Eigentlich hast du jetzt schon verstanden, was Ökodumping ist.“
Sophie antwortete nicht und zog ihren Mund kraus.
„Einzelne Firmen können nicht alles frei entscheiden, was sie wollen. Sie können sich an Gesetze halten oder die Anforderung sogar übertreffen, wenn sie es sich leisten können und Kunden ihre Produkte auch kaufen, wenn sie teurer sind. Wenn sie aber gegen Gesetze verstoßen um ihre Kosten zu drücken, dann müssen sie mit Strafen rechnen.
Einige Länder haben sich aber dazu entschlossen keine oder zu wenige Gesetze einzuführen, die die Umwelt schützen. Das gibt den inländischen Unternehmen den Vorteil kostengünstiger zu produzieren und sich dadurch international mit ihren Produkten aufgrund der geringeren Preise durchsetzen zu können.“
„Aber warum machen die das? Das zerstört doch die Umwelt!“ Sophie wollte das nicht verstehen.
„Das machen auch nur Entwicklungsländer, denen die Zukunft weit weniger wichtig ist. Sie wollen jetzt Geld verdienen. Dass Menschen deswegen vergiftet werden, ist denen egal – Geld regiert die Welt, das musst du dir merken.“
Er strich ihr weiter über den Rücken, als könnte das die Wahrheit angenehmer erscheinen lassen.
„Aber das ist ja asozial! Scheiß Geld!“
„Das wird sich legen. Lass die Länder sich erst einmal entwickeln, dann werden sie auch sie fortschrittlich denken wie wir.“
Er lächelte ihr aufmunternd zu.
„Ökodumping ist ein Preiskampf, der auf Kosten der Natur durchgeführt wird.“ Er wollte seine Antwort abschließen. „Wenn du magst, dann helfe ich euch, wenn du und“ er machte eine unbeholfene Bewegung mit der Hand.
„Anna“, vervollständigte Sophie.
„… und Anna am Referat arbeitet. Dumping kann eigentlich auf Kosten von vielen Dingen betrieben werden. Auf Kosten der Umwelt, der Gesundheit oder von Menschenrechten. Aber genau so kann es auf Kosten zukünftiger Generationen geschehen, wenn deren Potenziale zerstört werden.“
Sophie blickte finster drein und schaute dem Fernsehsprecher zu, wie er als Stummfilm das Wetter präsentierte – heiter bis bewölkt.
„Hab ich dir weiter geholfen?“
„Irgendwie schon“, brummte sie und sah in Gedanken Giftfässer im Wasser schwimmen.
Ihr Vater fuhr ihr über den Kopf und zerzauste ihr Haar, dann stand er auf.
„So jetzt muss ich aber. Ich will noch schnell tanken fahren. Morgen geht es ab in den Urlaub.“
„Wir können ja auch unterwegs tanken“, meinte Sophie leicht abwesend.
„Ich bin doch nicht dumm und tanke in Deutschland“, lachte er vergnügt. „Außerdem brauch ich noch eine Stange Zigaretten. Ein Glück sind die nicht auch noch teurer geworden.“

Ismars Strafe

An diesem Wochenende war Monatsmarkt. Ismar mochte diese Tage, anders als bei den üblichen Wochenmärkten kamen auch Handwerker und Händ...