Theo ist der jüngste Spross einer erfolgsverwöhnten Familie. Demnach selbstverständlich ist es für ihn, sich und seinen Studienabschluss gebührend zu feiern. Doch im Rausch dieser Party beginnt er sich Fragen zu stellen und die Fassade, die für ihn das Leben darstellt, beginnt zu bröckeln.
Jane, seine Putzfrau, bringt ihn ungewollt auf eine Idee. Er möchte Bedeutung für sein Leben, und ist selbstsicher genug zu glauben, diese während einer simplen Reise zu finden.
Doch was er findet sind Antworten auf Fragen, die er nie gestellt hat. Er beginnt zu verstehen, dass es jenseits seines Tellerrandes mit dem goldenen Löffel eine andere Welt gibt, und er muss sich dort Herausforderungen stellen, die ihm bisher fremd waren.
Das Buch ist ab sofort erhältlich bei Epubli, in der Buchhandlung ganz in ihrer Nähe. Eine Leseprobe sowie das Ebook gib es bei Neobooks.
ISBN: 978-3-7467-5658-5
Flucht aus dem Morgengrauen
«Willst du die
Welt bereisen, musst du erst dich finden, die Vorstellungen der Menschen
in den Schrank stecken, und deine Neugier in deinen Koffer»
Zitat des Protagonisten.
Klappentext:
Die
ihm an den Kopf geworfenen Formeln lassen den Studenten daran zweifeln,
die Welt zu verstehen. Auch deshalb stürzt er sich in das ihm
angebotene Abenteuer einer Weltreise. Eine Journalistin samt Millionär
verschreiben sich während dessen der zielgerichteten Fortbewegung, ohne
sich darüber im Klaren zu sein, wieso sie dies wollen. Mit jedem Tag,
den sie mehr scheitern, verblassen die Ausreden und Selbsttäuschungen,
die ihren einzigen Antrieb darstellen. Als Begleitung drängen sich die
Vorstellungen und Werte einer Gesellschaft auf, die sich bald schon
abwendet. Im Gepäck nichts als Illusionen, nicht erfüllbare Erwartungen
und den Fluch ihres bisherigen Lebens. Deshalb kommt es, wie es kommen
muss. Sie laufen weg – vor sich selbst und der Welt ...
Mehr rund um das Buch samt findet ihr in dieser Leseprobe
erhältlich bei Epubli
oder in der Buchhandlung ganz in ihrer Nähe.
ISBN: 978-3-7375-6327-7
Busfahrt / Zur tanzenden Kegel
Eine
Busfahrt ist normalerweise eine eintönige Angelegenheit. Nicht so für
den Protagonisten dieser Novelle. Minutiös registriert er seine
Umgebung, nimmt Menschen wahr, die ihn auf seine Fahrt begleiten.
Detailliert schildert er seine Eindrücke und selbst das Kleinste bleibt
ihm nicht verborgen. Oft tiefgründig erzählt und manchmal auch zum
Schmunzeln. Eine Busfahrt, eine Reise durchs Leben.
Stellen Sie sich vor, Sie sehen Schulfreunde wieder, die Sie viele Jahre
lang nicht mehr sahen. Ein Klassentreffen. Was ist aus ihnen geworden?
Was geht in diesen und Ihnen vor? Was denken und fühlen Sie? Einige
waren Freunde, manche verhasst. Folgen Sie dem Protagonisten in eine
Gaststätte, lauschen Sie den unterhaltsamen und manchmal philosophischen
Gesprächen von Sophie, Pauline, Felix, Sebastian und einigen mehr.
Vielleicht erkennen Sie sich wieder.
Erhältlich u.a. bei:
beim Epubli
oder in jeder gut sortierten Buchhandlung
ISBN:
978-3-7418-3498-1
11:55, notierte die Krankenschwester auf ihrem Blog. Ein Schrei und
schon ging das Rennen los. Im Kreißsaal war der Start erfolgt und sein
Leben versprach reich an Jahren zu werden. Ein ganzes Jahrhundert, wenn
das Glück ihm hold sein würde. Doch davon wusste es nun noch nichts.
Erst einmal Schreien war angesagt, während andere bereits die Weichen
setzten, für ein erfülltes und frohes Leben. Wobei, voll und erfolgreich
würde es besser treffen.
Aber genug davon. In drei Jahren musste es
sich bereits gegen Altersgenossen behaupten. Ausbildung ist wichtig –
Existenzbedingung. So sahen es die Werte der Menschen. Blind beachteten
diese nur die Besten und waren dann noch auf diese neidisch. Andere gab
es dann nicht. Der Zweitbeste, wie das schon klang. Irgend so einer aus
der Provinz, dessen Arbeit man nicht schätzen musste, und dass er ein
Mensch war, was zählte das schon. Man musste sich beweisen, behaupten,
Werte erreichen. Und die Latte war hoch, schließlich war der Zweitbeste
erster der Verlierer.
Hart war es schon, aber was sollte man tun:
Wer glücklich sein will, muss Geld haben. Glück kauft man. Im Supermarkt
der Kilopreis: unbezahlbar. Deshalb auch wollten die Menschen immer
mehr. Millionen, sie reichten nicht. Nur wenige Gramm vergänglicher
Zufriedenheit gab es dafür. Vielleicht noch Lob, da man zu den Besten
gehörte und tonnenweise Neid, Wut und böses Blut. Nur weil man die Werte
der Menschen erreicht hatte, und diese so sein wollten, wie man war.
Nur, sie waren es nicht.
Wie gut, dass der Balge noch nichts von
diesen Gesellschaftswerten wusste. Aber bald schon würden sie fragen,
die Nachbarn, die Bekannten. Und wie macht es sich? Lernt es auch gut?
Die mitleidigen Blicke, wenn es den Werten fern blieb, diesen
menschgemachten, dem Maß aller Dinge. Dem einzigen Weg zum Glück. Nur,
wenn das stimmte, warum hat man noch nie einen Menschen gesehen, der so
glücklich ist, dass er zufrieden ist? Gab es derer nicht? Oder sah man
sie nicht? Weil sie nicht nach Werten strebten? Weil sie nicht reich
waren und nicht so viel Lärm machten? Nicht goldbehangen prahlten? Nein,
das konnte nicht sein. Wo sollten sie ihr Glück denn finden, wenn nicht
im Supermarkt? Etwa in sich selbst, wie einige Exzentriker manchmal
behaupteten? Aber warum dann diese Werte?
Gut, dass keiner dem Kind
solche Flausen in den Kopf setzte. Es würde seinen Weg schon gehen. Es
war doch noch so jung. Vielleicht würde es die Latte gar schaffen und am
Ende dann ins Geschäft gehen, als junger Mensch vielleicht schon.
Freundlich, wohlerzogen: Ein Kilo Glück, bitte.
Und sollte es nicht
schnell genug sein, nun, es hatte schließlich hundert Jahre zum laufen.
Und allein musste es auch nicht rennen. So viele gab es, die es
überholen wollten. Die einen beschämt, weil es zu langsam war, die
anderen neidisch, weil sie nicht hinter her kamen.
Immer noch schrie
das neugeborene Kind, während die Krankenschwester es hinaus trug,
recht hatte es. Und vielleicht – wenn es Glück hatte – würde es in
hundert Jahren sagen können, dass es wenigstens einen Tag wirklich
gelebt hat.
„Samstag“, stand es groß und schwarz auf dem Kalender. Der Monat
verriet teilnahmslos den Beginn des Frühlings, welcher sich noch hinter einer
gräulich leuchtenden Wolkendecke versteckte.
Der Morgen war eben erst angebrochen, und begann wie die Tage
davor, die Wochen, die Monate. Die Zahlen auf dem Kalender wechselten, ebenso
wie die Akten auf dem Schreibtisch. Leblos lagen sie da, und zerrten den Mann
an den Schreibtisch. Sie übten eine große Macht auf ihn aus und wirkten dennoch
unschuldig.
Der Schreibtisch war bis ins kleinste Detail aufgeräumt. Die
Lampe darauf glühte nicht, einzig das große Fenster spendete ein kaltes fahles
Licht. Dennoch saß ein Mann davor, sinnend, und starrte auf die dicke
Holzplatte. Er war noch müde und rieb sich das Gesicht, als könnte er seine
Müdigkeit damit vertreiben. Doch sein Blick blieb kraftlos. Hilflos suchend,
blickte er sich um. Er wusste nicht, wonach er suchte. Kurz blieb sein Blick an
einem Foto haften. In seinem Kopf hörte er Vorwürfe, und wandte sich ab.
Es war Wochenende, doch das kannte er nicht. Er wollte arbeiten.
Es galt die Akten zu wälzen, die für die nächste Woche fertig sein mussten.
Aber er bewegte sich nicht. Er fand den Anfang nicht. Sein Erscheinen war makellos,
sein Rücken gerade. So saß er da und sah aus, als würde er jeden Augenblick
loslegen. Doch die digitale Uhr zerstückelte die Zeit in Zahlen, ohne dass sich
etwas änderte. Widersprüchliche Gedanken hielten ihn in dieser Starre gefangen.
Die Wände waren an sich weiß, aber im matten Licht wirkten sie
grau und kalt. Die weichen Ledersessel standen leicht verloren im großen Zimmer
umher, und versuchten vergebens, den Eindruck von Luxus zu verteidigen. Doch
die Welt bekam Risse. Die Illusionen verblassten mit der Zeit. Er hatte hart für
all das gearbeitet. Viele hatte er damit beeindrucken können, gar sich selbst,
doch nun erdrückte es ihn mit seinem kalten Glanz. Er hörte seine Frau nach ihm
rufen. „Gleich, ich muss nur noch kurz“, hörte er sich antworten und rieb sich
mit beiden Händen das Gesicht. Nur kurz, doch daraus waren Jahren geworden. Nun
war er allein, weil sie nicht gewartet hatte.
Der Mann hatte seinen Kopf in seine Hände sinken lassen und
hielt sich mit ihnen die Ohren zu, als wollte er die Schreie ersticken, welche
nur er hören konnte. Sie schrien nach ihm, als wollten sie ihm etwas sagen.
Doch er wusste, was diese Stimmen sagen wollten, und er wollte es nicht hören.
Was wussten die schon – diese rastlosen Stimmen, die ihn auch in seinen Träumen
verfolgten.
Sie wollten ihn bremsen. Voller Neid waren sie wegen seinem
Erfolg. Kein Wunder, dass sie so verzweifelt schrien.
Das fahle Licht, das von den Wänden zurück geworfen wurde, ließ
ihn alt erscheinen. Sein Rücken war dem Fenster zugewandt, und so konnte er nur
in den endlosen Raum hineinstarren. Doch den sah er längst nicht mehr. So viel
hatte er erreichen wollen, so viel hatte er erreicht, und doch war ihm alles
verloren gegangen. Alles was ihm geblieben war, war grau und kalt. Die Akten
waren ihm treu geblieben und verlangten nun, dass er sich ihrer annahm.
Dach dann stand er auf. Langsam, als wäre er ein alter Mann.
Sein Gesicht verzerrte sich zu einem tonlosen Gähnen, während er seine Arme
auseinanderriss, als versuche er, aus seinem Körper auszubrechen.
Er drehte sich um und stand gleich vor dem Fenster, welches bis
an die weit entfernte Decke reichte. Viele Meter lang war dieses, und ersetzte
eine ganze Wand.
Die Wolkendecke war stark durchflutet von Licht, und ließ den
Himmel weiß erscheinen. Der Blick des jungen Mannes glitt langsam von einer
Seite zur anderen. Die Bewegung war gleichmäßig, und er selbst unberührt von
dem, was er sah. Geblendet von der gleichmäßigen Flut weißen Lichts, stand er
da, leblos, wie der Raum hinter ihm. Nur die Uhr wechselte ihr Gesicht und
verriet, dass die Zeit nicht stehen geblieben war. Draußen umrahmte eine Hecke
die weite Wiese, in der einige Bäume standen. Endlich schien der Mann etwas zu
bemerken. Ihm fiel auf, wie der Wind in den Ästen spielte.
Er hielt den Atem an, horchte, doch das Rascheln der tänzelnden
Blätter fehlte. Er strengte sich an, doch er fühlte nichts. Es war ihm alles
fremd, und so fern. Er versuchte sich zu erinnern, doch es blieb ihm verborgen.
Die Welt da draußen, er hörte sie nicht, er fühlte sie nicht.
Nah am Fenster wackelte ein Ast. Ein Vogel, eben gelandet,
trällerte sein Lied. Doch nur der Schnabel bewegte sich. Das Fenster schluckte
jedes Geräusch. Stummfilm, sein Leben, es war draußen, ausgeschlossen. So fern
und unerreichbar wie jedes Gefühl.
Wieder bewegte sich etwas. Ein Junge tanzte lachend auf dem
Rasen. Wochenende, sein Sohn wusste das, und spielte mit dem Drachen. Ein
Geschenk aus einer lange vergangenen Zeit.
Hoch flog er, lebhaft spielten sie. Der Drache, sein Sohn und
der Wind. So wie er es getan hatte – früher – in einer anderen Welt. In einer,
in der er den Wind noch gespürt hatte.
Es war nur mehr eine Erinnerung. Alleine stand er da, und
starrte hinaus. Sinnend drehte er sich um, sah den Schreibtisch. Das Gesicht
der Uhr schrie ihn an. Eine andere Stimme war es. Mächtig, beide kämpften, wie
Teufel und Engel auf seiner Schulter. Wie hatte er das zulassen können? Warum
waren ihm die Zeichen verborgen geblieben? Er hörte die Stimme seiner Frau nach
ihm rufen. Anschreien tat sie ihn.
Doch nun war es zu spät. Sie und sein Sohn lebten ihr eigenes
Leben. Sein Kopf sank gegen die Glasscheibe. Seine flache Hand legte er gleich
daneben und es sah aus, als wollte diese durch die Scheibe hindurch greifen.
Doch er war zu schwach. Wütend verzog sich seine Hand zu einer Faust und pochte
zweimal gegen das Glas. Resignierend glitt sie nach unten, und er stieß sich
ab. Dann zog er seinen Stuhl hervor und setzte sich. Wahllos nahm er eine Akte
in seine Hand. Welche, war bedeutungslos.
Nach dem anhaltenden Rattern des elektrischen Schlosses, öffnete sich die Tür unter meinem aufgestützten Gewicht leidend. Ein dunkler Flur erwartete mich, und die Kälte, an mir vorbei strömend, drängte sich mit hinein. Ein Lichtfleck verriet eine Türöffnung. Mich darauf zu bewegend, konnte ich aufgeregtes Stöhnen vernehmen. Im Türrahmen stehend, erkannte ich den Störenfried. Ein kleines Kind krabbelte, offensichtlich vergnügt, unter einem niedrigen Tisch herum. Kaum merklich wurde es stiller, als dieses mich erblickte. Zu kriechen hörte es auf und schenkte mir, dem Eindringling, gebannte Blicke. Als ich diese mit einem Lächeln erwiderte, stieß sich das Kind den Kopf. Doch aus irgendeinem Grund, erachtete es dies als unwichtig und behielt mich vorsichtshalber weiter im Auge.
Gänzlich eingetreten, grüßte ich. Erst jetzt fiel Licht auf meine Gestalt. Bislang hatte mich lediglich eine Frau bemerkt, augenscheinlich die Mutter, die das Geschehen genau beobachtet hatte. Ihr Mund formte sich andeutungsweise zu einem Grinsen. Wohl war mein schlechtes Gewissen spürbar gewesen.
Ein Mädchen, etwas erschreckt von meinem Erscheinen, grüßte mechanisch zurück, bevor es sein Gesicht wieder in seine Illustrierte vergrub. Ein alter Mann brummte etwas, das man mit einigem guten Willen als Begrüßung hätte deuten können. Ansonsten schwieg die Gesellschaft. Etwas, das sie auch von mir erwartete. Ein wenig durfte ich noch für Unruhe sorgen, dann aber sollte ich sitzen.
Meines Mantels wollte ich mich aber noch entledigen. Der Kleiderständer, sinnvollerweise auf der, der Tür abgewandten Seite postiert, war notorisch überfüllt. Über ein Paar Beine kletternd, gelang ich dorthin und machte mir an diesem zu schaffen. Die Beine, unglücklich ausgestreckt, schienen bei meiner Rückreise erneut Wegegeld erheben zu wollen, während deren Besitzer gelangweilt durch mich hindurch auf den Boden starrte.
Ohne Wahlmöglichkeit, begab ich mich in den hinteren Teil des Raumes, um dort Platz zu nehmen. Zu meiner rechten saß eine alte Frau. Ihre Wollmütze trug noch die zu Tropfen geschmolzenen Schneeflocken, während sie ihre beige Handtasche auf ihrem Schoß hatte und beidhändig umklammerte. Zu meiner linken stand bedrohlich eine angriffslustige Stechpalme, die den Eindruck erweckte, mir keine Bewegung verzeihen zu wollen.
Das Kind hatte wieder begonnen den Tisch zu erkunden, während die Mutter, mir quer gegenüber sitzend, mit hilflosen Handbewegungen ihr Säugling zum Innehalten bewegen wollte. Eine Stellung, die Kinder nur selten einnehmen konnten. Aber eigentlich machte es auch keinen Lärm. Nur, dass das Rutschen auf dem spätestens jetzt aufgewischten Boden mehr Geräusche verursachtete, als das allgemeine Umblättern der Zeitschriften. Einen Umstand, den manche wohl als Aufstand umschrieben hätten. Mir aber war solches Denken fremd. Mir gefiel das erkundungsfreudige Benehmen des Kleinen. Und in Ermangelung eines anderen Lebenszeichens, ließ ich meinen Blick auch weiter auf diesem ruhen.
Zunächst geschah auch nichts weiter. Zeitschriften wurden durchblättert. Ausgetauscht, wenn als bekannt erachtet. Dies wurde dann stets mit reichlich Interesse von dem Kleinen beobachtet und mit einem erfreuten Glucksen kommentiert. Deutlich zum Missfallen einer Dame mit ausladendem Dekolletee, das nur unzureichend mit Goldketten ausgestopft war. Jedesmal rümpfte sie die Nase.
Unruhig rutschte die Mutter auf ihrem Stuhl hin und her. Das allgemeine Schweigen, zwecks steriler Notwendigkeit, duldete keine Skandale. Sich ihrer Schuld bewusst, streckte die Mutter liebevoll ihre Arme aus. Doch das Kind, die Geste missdeutend, erachtete das Versteck unter dem Tisch um einiges Spannender. Die Goldfrau schüttelte verärgert den Kopf und ihre hochgezogene Braue machte deutlich, dass sie dieses Scheitern erwartet hatte. Um sich in ihrem Urteil bestätigen zu lassen, blickte sie zur alten Frau neben mir. Doch zu meiner Freude, war diese zu sehr in Sorge um ihre Handtasche, als dass sie das Geschehen hätte mitbekommen können. Empört starrte die mit Ketten behangene Frau zur Decke, als könnte sie sich dadurch unserer unwürdigen Gesellschaft entheben.
Da ich durch meinen ersten Kontakt mich bereits infiziert glaubte, konnte auch ein weiteres Lächeln nichts schaden. Die Mutter erwiderte es, erleichtert, dass sie mit ihrer abstoßenden Krankheit nicht alleine war. Das Kind, von dieser wortlosen Unterhaltung angetan, lugte hinter einem der Pfosten hervor.
Ich jedoch wandte mich dem Fenster zu. Wollte deutlich zeigen, dass die – von der Frau als unangemessenen Lärm bezeichneten – Geräusche mich nicht störten, dass ich diese nicht einmal als solche wahrnahm. Mich dem tristen Anblick der Wolken draußen verwehrend, blickte ich mich im Zimmer um. Gelblich-grün waren die Wände gestrichen. Ein nicht interpretierbares Bild stach aus dem Grün hervor. Schmunzelnd, dachte ich, es könnte einmal unter einem Tisch gemalt worden sein.
Der Raum gab nicht viel her, und so begann ich die Wartenden zu betrachten. Das Mädchen vergrub sich immer noch in seiner Zeitschrift und las wie gebannt einen Artikel. Den Rücken schmerzhaft gerade, fragte ich mich, ob es überhaupt atmete. Daneben saß ein unscheinbarer Mann, mitte dreißig, die Kappe ins Gesicht gezogen und schlief. Mein Blick zog weiter. Der Kleiderständer, passte sich mit seinem Benehmen den Anwesenden an und füllte den Raum, ohne den Eindruck erwecken zu wollen hierhin zu gehören. Der Lümmel gleich daneben, immer noch den Wächter desselben spielend, ließ ansonsten aber alle unbehelligt und ignorierte auch die Frau zu seiner Linken, die immer noch wie auf Dornen saß.
Ansonsten blieb nur noch der alte Mann, gleich neben der Tür, unerwähnt. Er saß neben der Verfechterin aller Sittsamkeit, in ihrem Kaschmirfetzen. Der Mann hatte sich nach vorne gebeugt und stützte sich beidhändig auf seinen Gehstock. Sein Blick auf seine braunen Lederschuhe gerichtet, trug auch er nicht zur Unterhaltung bei.
Als ich alles zu sehen geglaubt hatte, erblickte ich ein Paar großer Augen auf Kniehöhe. Der Kleine hatte sich heran gewagt und hielt mich offenkundig für einen Tisch. Prüfend betastete er meine Beine, in dem Irrtum, es handle sich dabei um Pfosten. Überrascht lächelte ich es an. Der Tisch lebte, stellte es begeistert glucksend fest. Aufgeregt, wollte es in die Hände klatschen, verlor aber das Gleichgewicht und fiel lachend auf seinen Hintern.
Erschreckt sprang die Mutter auf. Auf mich zu eilend, lächelte sie mich verlegen an. Als sie ihren Sohn auf den Arm nahm, begann sie sich bei mir zu entschuldigen. Mit freudiger Miene, erklärte ich wortlos, dass es nichts zu entschuldigen gab. Die Mutter sah aber den allgemeinen Konsens verletzt, mich mit einer fast verbrecherischen Anwesenheit bedroht zu haben. Die Goldfrau zeigte sich diesbezüglich meinungsgleich und protokollierte die Angelegenheit mit strengen Blicken.
Schützend hielt die Mutter ihr Kind vorerst auf dem Schoß. Der Schutz indes, galt nicht dem Kind, sondern der Allgemeinheit. Ein solcher Aufstand bedrohte das Schweigen.
Es dauerte eine Weile bis wieder Ruhe einkehrte. Eigentlich war es nur die Goldfrau, die sich echauffiert fühlte. Keiner der anderen hatte überhaupt etwas bemerkt. Es galt die Wartezeit zu überbrücken, derweil konnte man sich nicht mit anderen Dingen beschäftigen.
Der Forschergeist, dem Menschen seit jeher in den Genen steckend, ließ das Kind jedoch nicht lange auf dem Schoß seiner Mutter ausharren und so versteckte es sich schon bald wieder unter dem Tisch.
Ein Umstand, der abermals die Missbilligung der Allgemeinheit – repräsentiert durch die Goldfrau – erfuhr. Fast schon richtete sich ihr Zorn gegen mich, da ich nicht die nötige Empörung aufbrachte. Aber mir gefiel diese reinste und ungezügelte Neugier des Kleinen. Vielleicht ein wenig gebremst von verunsichernder Angst.
Es dauerte auch nicht lange, bis meine Beine erneut eine gründliche Prüfung erfuhren. Die Mutter wollte auch gleich wieder aufspringen, doch mein freudiges Gesicht, ließ sie inne halten. Und so begnügte sie sich damit angespannt auf ihrem Stuhl hin und her zu rutschen.
Die Entdeckungsfreude des Kleinen auf die Probe stellend, hob ich ihn hoch und ließ ihn auf meinem Knie Platz nehmen. Verwundert über das seltsame Benehmen des Tisches, begann das Kind von neuem zu glucksen. Sich versichernd, dass seine Mutter noch in der Nähe war, blickte es sich um. Dann begann es vorsichtig zu schaukeln, als traue es nicht der Stabilität dieser Konstruktion. Doch als diese nicht einzustürzen drohte, wurde es lebhafter.
„Unerhört ist das!“ Die Ketten behangene Frau sah sich in der Pflicht mich vor der Bedrohung zu beschützen. Die Mutter öffnete den Mund und rutsche auf ihrem Stuhl nach vorne. Doch mein freudiger Blick ließ sie von neuem verharren. Hilfesuchend blickte sich die Goldfrau um. Doch ihr Protest fand nur wenig Unterstützung. Das Mädchen verschwand noch tiefer hinter der Zeitschrift, selbst ihre Haare waren nicht mehr zu erblicken. Der Mann schlief noch, während der Lümmel noch weiter in den Stuhl versunken war und sich jeder Teilnahme verwehrte.
Nur der alte Mann hatte aufgeblickt. Sein Gehstock klopfte zweimal auf den Fußboden, als wollte er bestätigen, dass er die Angelegenheit vergegenwärtigt hatte. Sich jeder Meinungsbildung entsagend, blieb seine Miene aber ausdruckslos.
„Max Lieblich, bitte.“ Die Sekretärin war eingetreten und verlangte den nächsten Patienten. Fluchtartig sprang die Mutter auf. Und auf mich zustrebend, lächelte sie mir verlegen zu. Als sie ihr Kind auf den Arm nahm, reichte ich diesem zum Abschied meinen Zeigefinger. Dieses missverstand die Geste und wollte denselben mitnehmen. Als Entschädigung lächelte ich ihm zu und behielt meinen Finger für mich.
Draußen im Flur wurden die beiden gleich von der Ärztin begrüßt. Seltsam, dachte ich, von uns allen, so befand ich mit meinem medizinischen Unwissen, war der Kleine, der Gesündeste.
„Nicht jetzt!“ Mehr als ein Zischen war es nicht. Wie so oft sah sie
einzig eine abweisende Handbewegung. Ihr leidenschaftliches und
lärmendes Bemühen ein Gespräch zu führen, abgewürgt mit der unbewussten
Geste der Ungeduld.
Ihr Vater war am Telefonieren und wollte nicht
gestört werden. Nahm sie nicht einmal wahr und wies das kleine Mädchen
mit einer kurzen Umdrehung ab. Halb neun war es und Sophie hatte ihren
Vater ins Büro begleitet. Ihre Mutter arbeitete halbtags und so wurde
das Gebäude, in dem ihr Vater arbeitete, während den Schulferien zu
ihrem Hort. Was genau Sophies Vater arbeitete, wusste sie nicht.
Manager, antwortete er immer, wenn sie fragte. Aber verstehen tat sie es
dennoch nicht. Manchmal sah sie ihm dabei zu, wie er arbeitete.
Allerdings war dieser ständig am Telefonieren und hatte niemals Zeit.
Dann stand er da, so wie jetzt, vor der großen Fensterscheibe und
stierte über das Meer der Häuser unter ihm. Mit der Hand im Nacken
versuchte er sich selbst zu entspannen.
Sophie konnte nicht
begreifen, wieso man sich beim Telefonieren so sehr aufregen konnte. Und
der Sinn der Arbeit entging ihrem Verständnis völlig. Mit jedem redete
ihr Vater – nur mit ihr nicht.
So seinem Rücken zugewiesen, zuckte
sie mit den Schultern, ließ Papier und Stifte auf dem Boden liegen und
öffnete lautlos die Tür aus dem Büro.
Der Flur war offen und hell.
Reines Tageslicht mischte sich unter elektrisches kaltes Leuchten. Etwas
verträumt schlenderte sie umher und wurde von der seitlichen
Fensterfront magisch angezogen. Mit der Hand stets an einer Wand entlang
schleifend, näherte sie sich der lichtdurchfluteten Scheibe.
Ein
blauer Himmel lag über den Dächern der Häuser, von denen einige im Grund
zu versinken schienen. Keiner der sichtbaren Häuser ragte bis dorthin,
wo das kleine Mädchen sich die Nase an der dicken Glasscheibe platt
drückte. Sie mochte es zu sehen, wie die Autos wie bunte Ameisen sich
mit ihren rot aufglühenden Augen durch die schmalen Gassen schlangen und
beinahe lückenlose Reihen bildeten.
Vor ihrem Gesicht wurde das
Glas weiß und ließ die Stadt nur noch schemenhaft erkennen. Ihr Atem
ging schneller und sie hauchte immer kräftiger gegen die Scheibe, bis
schließlich ein großer Kreis aus kondensiertem Wasser dort erschien und
ihre Nase und ihren Mund abbildete. Beglückt gluckste sie auf und tupfte
zwei Augen in ihr Kunstwerk, lachte ihrem gegenüber zu, drehte sich um
und hüpfte den Flur hinunter. Leise sang sie vor sich hin und klopfte
mal an der einen, mal an der anderen Seite gegen die Wand und vergaß
völlig, was ihr Vater ihr so oft gepredigt hatte.
Scheinbar ziellos
zog sie durch die ihr so vertrauten Gänge des oberen Geschosses. Die
Fenster beachtete sie schon lange nicht mehr und ihre Kreise zogen sich
immer enger um den inneren Kern.
Plötzlich blieb sie stehen und ihr
Summen verstummte. Sie hatte ein helles und kurzes Läuten vernommen und
war blitzschnell wieder um die Ecke gesprungen.
Vorsichtig lugte sie
hervor und sah eben noch, wie sich die chromsilbrigen Türen öffneten.
Im Kontrast zu dem Licht im Flur, wirkte jenes, das aus der Kabine
herausflutete leicht gelblich.
Ein großer schwarzer Schuh stahl sich
hervor und bald darauf folgte ein schwarz bekleidetes Bein. Ein Mann
stieg eben aus dem Fahrstuhl. In einer Hand trug er einen dunklen
Koffer. Mit der anderen griff er sich an den Hals und rückte seine
Krawatte zurecht. Als Einziges an seiner Erscheinung besaß diese Farbe.
Blassblau, wie der Himmel an einem wolkenlosen Winternachmittag. Auch
seine Frisur erfuhr eine rasche Überprüfung, bevor er eiligen Schrittes
in einen der Flure verschwand. Das Mädchen hatte er dabei gar nicht
bemerkt. Sein Blick war nicht für den Bruchteil einer Sekunde von seiner
Richtung abgewichen.
Vorsichtshalber blieb Sophie dennoch hinter
der Biegung stehen, wartete, bis die Schritte des Mannes endlich
verhallten, und wagte sich dann erst hervor.
Mit weit nach oben
geregtem Haupt blieb sie vor den silbrigen Türen stehen und beäugte
misstrauisch die großen leuchtenden Zahlen über dem Rahmen. Eine große 1
stand da. Gleich daneben noch eine, gefolgt von einer Sieben. Ihr
Herzschlag wurde wieder langsamer. Der Fahrstuhl war bereits viele
Stockwerke tiefer. Beruhigt begann sie wieder zu trällern und spielte
weiter. Vor dem Fahrstuhl gefiel es ihr am besten, denn hier hatte sie
am meisten Platz. Ein großer Bereich, aus dem drei Gänge führten. Ohne
ihrer Umgebung noch weiter Beachtung zu schenken, lief sie in großen
Kreisen durch die Halle. Ihr Summen und ihre Schritte hallten wieder und
verdrängten jedes andere Geräusch.
Die Gefahr vergessend, bemerkte
sie zu spät, dass sich die Kabine sich abermals näherte. Erst das Läuten
ließ sie verharren. Erschreckt blickte sie sich um. Jegliche rettende
Ecke unerreichbar weit weg. Schon öffnete sich die Tür. Sophie stand
immer noch so da, wie sie nach ihrem letzten Sprung das Gleichgewicht
wieder gewonnen hatte. Mit nach hinten gerissenen Armen und nach vorne
gebeugtem Oberkörper. Ein leicht grauhaariger Mann, etwas hager – wie
die meisten in diesem Gebäude – trat hervor und verengte leicht die
Augenbrauen, während er das Mädchen prüfend ansah. Dieses lächelte ihm
frech entgegen und schlich sich an ihm vorbei, bevor dieser auf die Idee
kommen könnte, sie nach ihren Eltern zu fragen. Oft genug schon hatte
der Hausmeister sie zu ihrem Vater zurückgeschleppt. Der Mann drehte
sich um, wollte etwas sagen, doch die Fahrstuhltür schloss sich bereits.
Als hätten seine Gedanken den Faden verloren, schüttelte er den Kopf
und ging weiter.
Sophie lehnte am hinteren Spiegel und sah nach oben
in die hellen Leuchten. Erleichtert atmete sie aus. Der Förderkorb
setzte sich in Bewegung. Das vertraute Gefühl des Fallens ergriff sie.
Leise begann sie wieder zu kichern. In der Aufregung hatte sie nicht
einmal bemerkt, auf die Taste sie gedrückt hatte und war enttäuscht als
sich bald schon die Türen öffnete. 4 konnte sie dort lesen, gefolgt von
einer 2. Das ging besser dachte sie und hupfte aufgeregt, um an den
obersten der Knöpfe zu reichen. Gleich darauf zogen die dicken Seile sie
wieder nach oben. Vergnügt ließ sie sich hinfallen und legte sich auf
den Rücken. Es gab eh nur eine Art wie man Fahrstuhl fahren konnte –
nämlich liegend. Jetzt spürte sie die ganze Kraft, fühlte, wie sie sich
der Erde entfernte, fühlte gar das leichte Vibrieren des Bodens. Das war
besser als die Wippe im Kindergarten.
Kaum hatte der Druck auf
ihren Rücken nachgelassen, erkannte sie vor sich auch schon wieder die
Empfangshalle des Geschosses, in dem ihr Vater arbeitete. Doch sie
dachte nicht einmal daran auszusteigen. Eilig sprang sie auf und gab den
Befehl ins Erdgeschoss zu fahren. Mit aufleuchtender Taste bestätigte
die Kabine die Reise und ließ Sophie erneut fallen. Diesmal sprang sie
gar und lachte jedes Mal auf, wenn sie die Platte von Neuem berührte.
Sophie konnte ehrlich nicht verstehen, was die anderen in ihrer Klasse
nur an der Schaukel fanden. Dieses Spielzeug war ihr viel lieber.
Kaum wollte das Programm die Pforte öffnen als Sophie ihre Meinung auch
schon wieder revidierte und sich auf den Weg zu dem obersten Stock
machte. Lange ging das nie gut, aber solange keiner sie davon abhielt,
würde sie dies wiederholen. Ganze Morgende hatte sie so verbracht –
meistens unterbrochen von dem schief lächelnden Haumeister, der es nie
fertigbrachte, streng zu werden.
Auf einmal stand unten ein Mann,
als der Fahrstuhl sie zum wiederholten Male entlassen wollte. Sie
beäugte ihn skeptisch, befand dann, dass sie ihn nicht kannte, lächelte
in frech an und stieg aus. Das musste sie so machen, anders würde der
Hausmeister wieder einen Anruf bekommen. Mit der Zeit hatte sie
herausgefunden, wie sie am längsten spielen konnte.
So also stand
sie nun draußen, im Erdgeschoss und wartete etwas ungeduldig darauf,
dass der Fahrstuhl erneut leer ihr die Türen öffnete. Stehend verging
die Zeit viel zu langsam. Unbewusst begann sie zu wippen. Bis sie einen
Schatten hinter sich wusste und gelähmt innehielt. Bedächtig schielte
sie zur Seite und glaubte sich ertappt. Doch auch dieser Mann war ihr
fremd. Ein wenig von seiner Erscheinung fasziniert begutachtete sie ihn
von unten bis oben. Ein stattlicher, eher auffällig fülliger Mann in
dunklem Kostüm und roter Krawatte stand neben ihr. Trotz seiner
überschüssigen Kilos besaß sein Gesicht einiges an Schärfe und selbst
Strenge im Übermaß. Sein Blick durchbohrte sie, während er auf sie herab
sah und ihr Benehmen wortlos missbilligte.
Sophie musste schlucken
und sah beschämt zur Erde. Am liebsten hätte sie sich in Luft aufgelöst.
Der Mann war ihr unheimlich und flößte ihr gar Angst ein. Sie
verkrampfte all ihr Muskel und verbot sich jede Bewegung. Sie wagte
nicht einmal mehr, ihn anzusehen. Angespannt horchte sie auf jedes noch
so leise Geräusch.
Dann endlich war es da, das Läutern auf das sie
gewartet hatte. Sie war ihn los! Innerlich jubelte sie, riskierte aber
immer noch keine Regung oder gar einen Ton anzudeuten. Der Mann tat zwei
Schritte noch vorn. Bange Sekunden. Er blieb stehen. Mit schlimmer
Vorahnung sah Sophie zu ihm auf. Seine Augen verengt, verzogen sich
seine Brauen zusehens. Bald würde er fragen. Warum sie nicht einsteige?
Was sie eigentlich hier machte? Das durfte nicht geschehen. Schon gar
nicht bei diesem Unmenschen. Abermals schluckte sie und drängte sich an
ihm vorbei in die nun eng erscheinende Kabine. Mit einem dominanten
Lächeln im Gesicht trat der Mann hinterher und drückte bestimmend auf
einen der Knöpfte. Sophie dachte nicht einmal daran, sich auch nur in
die Nähe der Knöpfe zu wagen.
Noch nie hatte Sophie das Schließen
der metallenen Türen so bedrohlich empfunden. In einer Ecke stehend,
hielt sie den Spiegel im Auge und betrachtete voller Unmut den Mann in
seiner dunklen Erscheinung. Breite Schultern strammten seinen Anzug. Der
Käfig zog die Beiden auch schon aufwärts. Ob der Spiegel das Bild
verzerrte? Sie spürte, wie ihre Angst wich. Der Fremde stand dicht vor
der Tür. Den Blick gesenkt betrachtete dieser wohl seine Füße. Seine
Hand fast zur Faust geballt, rieb er sich die Finger aneinander.
Sophie musste kichern, irgendwie taten das alle, wenn sie im Fahrstuhl
waren. Erschrocken von ihrem Übermut schlug sie sich die Hände auf dem
Mund zusammen und versuchte das Geräusch ungeschehen zu machen. Sie
hielt den Atem an. Ihr Herz schlug ungewöhnlich heftig. Doch der Mann
regte sich nicht. War er taub? Neugier verdrängte ihre Angst. Bedächtig
schlich sie sich nach vorne. Ihre Schritte konnten nicht unbemerkt
bleiben. Doch der Mann hob lediglich den Kopf und starrte auf die
erleuchtete Anzeige über ihm. Seine Lippen bewegten sich stumm, als
würde er zählen.
Ganz weit vorne stand der Dicke. Doch Sophie wollte
ihm ins Gesicht sehen. Dabei wagte sie zu viel. Mit ihrer Schulter
streifte sie sein Bein. Die Hand des Mannes zuckte kurz. Sein Blick
senkte sich leicht und blieb kurz an der metallenen Tür haften. Steif
rieb er sich mit seiner zusammengezogenen Hand, dort wo er berührt
worden war. Etwas verloren wandte er seinen Kopf zur anderen Seite und
erblickte sein Gesicht im Spiegel. Irritiert stellte er fest, dass er
nicht allein war, und betrachtete ruckartig den Boden unter ihm. Aber
dort stand nun Sophie mit breit grinsendem Gesicht. Verlegen, wegen der
sich anbahnenden Vertrautheit flüchtete sein Blick in die für das
Mädchen unerreichbare Höhe. Enttäuscht schlängelte sich das Mädchen
wieder nach hinten in die Kabine und betrachtete hoffnungsvoll die
Knöpfe, die sie bald wieder zu betätigen gedachte. An rasante Fahrten
dachte sie, während der Fahrstuhl abrupt stehen blieb und sich die
Flügel öffneten. Eilends hob der Mann seinen schwarzen Schuh hinaus.
Zupfte kurz an seiner Krawatte rum und verzog sich in einen der Flure.
Der Fahrstuhl war Sophies Reich und nun hatte sie ihn wieder für sich
ganz allein.
Ein satt grüner Teppich zog sich den Hügel hoch. Zart streichelnd fuhr
der Wind zwischen den langen Grashalmen hindurch, welche sich müde nach
unten bogen. Oben schlängelte sich ein Fahrradweg an einer Weide
entlang. Das Grau, nur ein hauchdünner Faden, verbarg es sich schon nach
wenigen Metern hinter der gedeienden Natur und wurde für das Auge
unsichbar.
Ein einzelner knorriger Baum wachte windschief am Wegesrand. Seine alten
Äste ragten wie greifende Hände über eine Bank. Nur wenige Blätter
zierten den Zeugen längst vergangener Tage und ließ den Griff noch
gieriger erscheinen.
Das Holz von der Witterung rau, hatte die Bank ihre schönsten Tage
bereits hinter sich. Wie ein altes Paar schwiegen Bank und Baum selig,
lauschten dem Wind, sonnten sich in den letzten Strahlen des Tages. Alt
waren sie. Und nichts hatte sie jemals getrennt. Viele Sommer standen
sie hier und genau so viele Winter hatten sie gemeinsam überstanden.
Doch die Zeit hatte ihre Spuren an ihnen hinterlassen. Die Rinde des
Baumes war rissig geworden. Zeichen waren in sie geritzt. Tief waren die
Spuren, doch die Schrift war kaum noch zu lesen. Zwei Buchstaben waren
es, umrahmt von einer seltsam geschwungenen Linie.
Der dünne, schon etwas länger gezogener Schatten des Baumes fiel nach
hinten auf die Weide und ließ den Mann auf der Bank unberührt. In dessen
Hand ruhte eine Blume. Eine einzelne nur, und obwohl die Farbe der
Blume noch hell leuchtete, wirkte sie genau so wächsern, wie die Haut
des Mannes, welcher sie mit seinen dürren und schwachen Fingern hielt.
Auch er war alt – der Mann. Fast so alt wie der Baum hinter ihm. Und
auch er trug die Spuren eines langen Lebens. Und nun saß er da,
scheinbar friedlich. So wie so oft in den letzten Jahren. Und immer
seine Blume in der Hand. Eine Tulpe war es. Rötlich-gelb leuchtete sie,
doch aus einem unerklärlichen Grund hatte sie vergessen zu welken. Nur
trocken war sie gewurden und leistete dem Alten treu Gesellschaft. Seine
Frau hatte diese Blume immer gemocht. Nicht rote Rosen wie andere,
nein, diese stacheligen Verführerinnen waren ihr unangenehm. Eine Tulpe
aber hatte etwas zartes an sich.
Und diese eine, diese nicht welkende, war übrig geblieben von dem
letzten Strauß den der Mann ihr geschenkt hatte. Alle waren sie
verwelkt, nur diese eine nicht. Und sie blieb bei ihm, nun da seine Frau
es nicht mehr konnte.
Er hatte sie geliebt, er liebte sie immer noch. Dies hier war ihr Platz
gewesen. Viele Sommertage hatten sie hier verbracht. Bis vor fünf Jahre
noch, der Baum ihr Zeuge. Und nun waren sie alle alt. Und sie hatten nur
noch sich. Der Baum die Bank, der Mann die Blume in der Hand.
Seit damals, dem Tag als sie starb, war er immer hier her gekommen, wenn
er ihr nah sein wollte. Die Blume stets in der Hand, saß er dort und
betrachtete den feurigen Sonnenuntergang. So wie seine Frau ihn stets in
seinen Armen genossen hatte.
Auf dem Friedhof hatte er sie noch nie besucht. Denn dafür hätte sie tot
sein müssen, und das war sie nicht. Nicht solange er noch lebte. Und
das tat auch sie, tief in seinem Herzen, dort wo die Zeit ihr nichts
anhaben konnte. Nur ihr Körper war nicht mehr. Er vermisste ihre Wärme,
nur die Blume war geblieben. Und an diesen langen Nachmittagen trank er
an ihrem Anblick die Liebe seiner Frau, wie aus einem Kelch. Hier konnte
er ihr nah sein, von der schwächer werdenden Abendsonne gewärmt.
Wieder einmal kroch die Sonne rot glühend und schläfrig unter den
Horizont, auf der anderen Seite des Tals, hinter einem fernen Hügel. Der
Mann auf der Bank hatte die Augen geschlossen. Kaum merklich hob das
friedliche Atmen seine Brust. Diese Besuche waren alles was er noch
hatte. Und oft schlief er ein, geküsst von der Erinnerung, und umarmt
von der Liebe, die niemals erlosch. Selig waren diese Momente, kostbarer
als alles andere. Der Baum, ihr Zeuge, ein treuer Freund im Rücken.
Langsam entwand sich die Sonne dieser Welt. Nach und nach verschmolzen
die langen Schatten und die Farben verblassten zu grauen Konturen,
während die Sterne mit ihrem kühlen Licht auftauchten.
Als der Mond aufging, eine dünne Sichel, und das Land in silbriges Licht
tauchte, saß der Mann immer noch auf der Bank. Der Wind kaum noch
spürbar, wehte die letzte Wärme aus dem Tal empor.
Dann sank der Kopf des Mannes nach vorn, ganz so als schliefe er. Und
nun würde er seine Frau doch auf dem Friedhof besuchen. Seine Blume in
der Hand, und nie wieder von ihr gehen.
Im Augenwinkel sah er es kommen. Als er realisiert hatte, was geschehen
würde, wusste er bereits, dass es unausweichlich war. Sein Griff um das
Lenkrad wurde fester. Sein Fuß sprang auf die Bremse.
Seine Schultern zogen sich zusammen. Sein Auto stand und er wartete auf
den Knall. Wie verrückt schossen Gedanken durch seinen Kopf. Warum hatte
er nicht achtgegeben? Er sah die vorletzte Ampel, die ihn orange-rot
vorbei gewunken hatte. Wäre er da stehen geblieben, wäre er nun nicht
hier.
Ein lauter Knall ertönte und ein kräftiger Ruck durchfuhr seinen Körper.
Sein Auto drehte sich und wurde leicht seitlich gedrückt, während ein
schwerer Mittelklassewagen seinen schwarzen Porsche verunstaltete.
Von hinten hörte er eine Hupe lärmen. Ein Unbeteiligter suchte
Aufmerksamkeit und musste seinen unnötigen Kommentar abgeben. Dieser
Fremde war ihm auf Anhieb unsympathisch. Das zeigte er ihm auch
deutlich, als er aus seinem Porsche ausstieg und ihn vorbei wank. Zu
dumm, um vorbei zu fahren! Aber Hauptsache Hupen und Glotzen. Obwohl
dieser Gaffer stehen blieb und das Fenster runter ließ, ging der Mann
auf die andere Seite seines Wagens und betrachtete mit reichlich
Unbehagen den Schaden. Doch er konnte nicht viel erkennen. Die
dunkelblaue Schnauze des Eindringlings drückte gegen den Motorblock.
Er spürte, dass ihn jemand von hinten anstarrte, und blickte auf.
Eine Frau stand neben ihrem Auto und blickte finster drein.
„Danke der Nachfrage. Mir geht es gut!“
„Gut“, antwortete er und wandte sich seinem Sportwagen zu.
„Gut? Sie denken wohl sie können sich mit ihrem Geld alles kaufen. Sie
spinnen doch! Wollen bei voller Fahrt über eine andere Fahrspur hinweg
abbiegen und sagen dann, dass alles gut ist?“
„Ist ja nur Blechschaden, das regelt die Versicherung. Für den Rest geht es ihnen gut!“
Ihre Wut kochte hoch, doch sie war so perplex, dass sie ihre Worte nicht geordnet herausbringen konnte.
„Das Gespräch hat für mich den Reiz verloren. Hier meine Karte. Schicken
sie mir die Rechnung. Ich kontaktiere meinen Agenten, dass er den
Schaden schnellst möglichst begleicht. Danke!“
Er wandte sich ab.
Der Pförtner war inzwischen aus der Bank herbeigeeilt.
„Ah, Herr Günther, gut, dass sie kommen.“ Der Fahrer ging auf den
Pförtner zu. Dieser war noch außer Atem und blickte sich irritiert um.
„Füllen sie für mich den Unfallbericht aus.“ Er drückte ihm den
Wagenschlüssel in die Hand. „Vielleicht versuchen sie auch den Wagen zu
rücken. Er steht etwas ungünstig.“
Die Frau blieb ungläubig stehen und wirkte verwirrt, als der Pförtner die Angelegenheit regeln wollte.
Derweil wartete der Mann auf den Fahrstuhl. Im obersten Geschoss wartete
sein aufgeräumter Schreibtisch auf ihn. Er riskierte einen flüchtigen
Blick nach draußen, doch von dem Geschehen dort unten war nichts zu
sehen. Er schüttelte den Kopf. Ärgerlich war das schon. Er öffnete sein
Notebook und feilte an seiner Rede, die er am späten Nachmittag halten
würde. Eckdaten glich er mit dem Berichtheft ab, den seine Abteilung
angefertigt hatte. Nachdem er einige Seiten durchgeblättert hatte,
merkte er, dass seine Änderungswünsche nicht umgesetzt worden waren.
Ungeduldig sprang er auf. Seine Sekretärin war eben eingetroffen und hing ihren Schall um die Jacke am Bügel.
„Guten Morgen Herr Münsner.“
„Morgen.“ Mit zügigen Schritten marschierte er an ihr vorbei.
Er konnte nicht sehen, dass sie die Brauen krauszog. Sie wusste um seine Launen. Und sie wusste, dass heute kein guter Tag war.
„Herr Künbach?!“ Er stürmte hinter der Trennwand hervor. Er blickte sich um, doch dieser war noch nicht da.
Und der will mein Nachfolger werden?, dachte er und drehte auf der Ferse um.
„Frau Rietsche bestellen sie Herrn Künbach zu mir, sobald er gedenkt aufzutauchen.“
Bevor er seinen Tisch erreichte, eilte der Bericht ihm voraus und
landete zielgenau neben seinem Laptop. Ihm blieb nur noch Zeit stumm
über sich zu fluchen, bevor ein Schäppern ertönte.
„Ach Scheiße!“ Sein Arm machte eine wütende Geste, als die Tasse über
den Boden kullerte. Dann wank er ab und stellte sich zur Fensterfront.
Keine Sekunde später stand seine Sekretärin im Raum. Sie sah, was
geschehen war, und wischte den Kaffee auf. Frau Rietsche war seit sieben
Jahren seine Sekretärin. Sie wusste, was die Stunde geschlagen hatte,
und sah ihn eine Weile an, während er bewegungslos vor dem Fenster
stand. Nun war es auch fast schon vier Jahre her, dass seine Frau ihn
verlassen hatte. Sie wusste warum. Sie empfand Mitleid und ließ ihn
allein.
Um Viertel nach acht tauchte Herr Künbach auf. Er war Mitte vierzig.
Seine breiten Schultern unterstützten sein selbstbewusstes Auftreten.
Als er am Sekretariat vorbei schritt, fing Frau Rietsche ihn ab und
flüsterte ihm schnell etwas zu, drückte ihm eine Tasse Kaffee in die
Hand und wünschte ihm viel Glück.
Er klopfte gegen die geöffnete Glastür und trat vor den Schreibtisch
seines Vorgesetzten. Er wartete, bis dieser ihm Aufmerksamkeit schenken
wollte und von seinen Unterlagen aufschaute.
„Herr Künbach!“ Die Stimme klang donnernd.
„Herr Münsner, Frau Rietsche bat mich, ihren Kaffee mitzubringen.“
„Sicher“, ein Zucken umspielte seine Lippen. „Mit Kaffee bringen allein verdienen sie sich aber nicht meinen Stuhl.“
Herr Künbach nickte zustimmend, ließ sich aber davon nicht beeindrucken.
Seine Beförderung war beschlossene Sache und Herr Münsner war daran
nicht ganz unbeteiligt, wie er aus anderen Kreisen vernommen hatte. Herr
Münsner hatte es geschafft innerhalb kürzester Zeit einige beachtliche
Karrieresprünge hinzulegen. Meistens war er der Erste, der kam und nicht
selten begegnete er dem Nachtwächter, wenn er ging oder ließ sich von
diesem das bestellte Essen bringen, wenn er die Nacht über im Büro
blieb. Das Sicherheitsprotokoll verbot den Lieferdiensten, die oberen
fünf Etagen zu betreten. Das war eine der vielen Regeln, die er selbst
eingeführt hatte. Datensicherheit und Effektivität waren seine größten
Sorgen. Er hatte dem Unternehmen seinen Stempel aufgedrückt. Dabei war
er selbstverständlich auf reichlich Widerstand gestoßen. Doch die
meisten seiner Widersacher arbeiteten heute bei Mitbewerbern. Wer klug
war, hatte sich auf seine Seite gestellt und ist in seinem Sog die
Karriereleiter raufgefallen.
Herr Künbach war einer davon.
„Sie kommen spät!“
„Verzeihen sie der Verkehr hatte heute gestaut.“
„Dann fahren sie Bus, wenn sie nicht Autofahren können!“
Herr Künbach schluckte seine Antwort hinunter.
„Sie haben noch die Notizen zum Bericht?“ Herr Münsner legte den Bericht
so, dass Herr Künbach ihn erkennen konnte, und passte auf, den Kaffee
diesmal nicht zu treffen.
Künbach nickte. Er hatte gelernt, dass sein Gegenüber in dieser Stimmung auf jedes Wort allergisch reagieren konnte.
„Dann sorgen sie dafür, dass sie auch eingearbeitet werden. Bis
spätestens 14 Uhr liegen 20 Exemplare eines makellosen Berichtes auf
meinem Schreibtisch!“
Diesmal musste Herr Künbach schlucken. Er wusste, dass es nicht sein
Fehler gewesen war. Eine Ausrede, sei sie noch so begründet, würde ihm
nur eine Schlinge um den Hals legen.
Er nickte, nahm den Bericht und ging einige Schritte rückwärts.
Herr Münsner wandte sich seinen Unterlagen zu. Herr Künbach war heilfroh den Raum verlassen zu können.
„Und Herr Künbach?“
Der Gerufene kniff die Augen zu, drehte sich dann aber seitlich.
„Und bringen sie sich ein Exemplar mit. Ich möchte sie dabei haben, wenn
ich denen sage, dass sie ab nächster Woche dieses Projekt übernehmen.“
Herr Künbach nickte abermals und beeilte sich hinaus zu können.
Wenig später stand unangekündigt eine Person im Türrahmen.
„Habe ich mich nicht klar ausgedrückt?“ Er ließ sich nicht herab, von
seiner Arbeit abzulassen und markierte eine wichtige Passage.
„Verzeihen sie.“
Diese Stimme hatte Herr Münsner noch nie im Büro vernommen und so
blickte er doch auf und erkannte den Pförtner, der unbeholfen da stand.
„Wenden sie sich an meine Sekretärin. Wieso glauben sie wohl bezahle ich die?“
„Verzeihen sie.“ Der Pförtner wünschte sich in Luft aufzulösen und suchte vergebens nach Worten.
Herr Münsner wollte so wenig Zeit wie möglich verlieren und wank ihn
hinein. Je schneller dieser sagte, was er wollte, je schneller war er
wieder weg.
„Verzeihen sie, ich habe mir erlaubt die“ er schaute kurz aus dem
Fenster. „Angelegenheit selbst zu regeln. Ich wollte so wenig wie
möglich Aufsehen erregen.“ Er nickte in Richtung Sekretariat.
Herr Münsner lachte erfreut.
„Mal einer, der mitdenkt!“ Herr Münsner stand auf und ging auf den Pförtner zu. „Und?“
„Und der Wagen ist in der Werkstatt.“
Herr Münsner nahm die Visitenkarte, die der Pförtner ihm reichte.
„Ein angemessenes Ersatzauto können sie erst gegen 15 Uhr vorbei bringen.“
„Danke, ich rufe selbst da an und spreche das mit denen ab.“ Er steckte
dem Pförtner 50 Euro zu und komplimentierte ihn mit einer Geste hinaus.
Der Pförtner hatte ihm ermöglicht der Blöße zu entgehen und so wollte er
die Gelegenheit nutzen und rief sogleich die Werkstatt an, sie sollten
ihm das Auto nach Hause bringen und den Schlüssel durch den Briefschlitz
in der Tür schieben.
Daraufhin kreisten seine Gedanken um wichtigere Dinge. Der Morgen und
der Nachmittag verflogen so ereignislos, wie an jedem anderen Tag auch.
Er ärgerte sich und ärgerte sich, dass er sich ärgerte und seine einzige
flüchtige Freude war, dass er alle dazu brachte, mehr oder weniger zu
spuren.
Die Hektik, die ihn in dieser Woche beflügelte, genoss er in vollen
Zügen. Sehr zum Leidwesen aller, die ihn an diesem Tag zu sehen oder zu
hören bekamen.
Es war spät am Abend, als er aus dem Fahrstuhl in die Tiefgarage trat.
Diese war zu dieser Stund fast leer und erst da wurde ihm wieder
bewusst, dass sein Wagen heute nicht auf ihn warten würde.
Gleichgültig zuckte er mit den Schultern und nahm der Seitenausgang aus der Tiefgarage.
Ein kühler Wind empfing ihn, als er auf den menschenleeren Bürgersteig
trat. Dann würde er eben ein Taxi nehmen. Doch dazu war er auf der
falschen Seite der Bank. Er ging in Richtung Taxistand, verlor dann aber
die Lust, so früh zu Hause zu sein. Eigentlich, so dachte er, würde die
frische Luft ihm auch einmal gut tun. Er überquerte die breite Straße
und war nach wenigen Hundert Schritten im Stadtpark. Dieser würde ihn
mit einigen Unterbrechungen und einem kleinen Umweg nach Hause führen.
Dass er den ersten Teil bereits hinter sich hatte, wurde ihm bewusst,
als er eine weitere Hauptstraße überquert hatte und den nächsten Wald
betrat.
Sein Tempo zeigte die gleiche Ungeduld, die er auch im Büro an den Tag legte.
Als er auf seine massive Armbanduhr sah, erklärte diese ihm, dass er mit
dem Taxi kaum schneller gewesen wäre. Doch aus irgendeinem Grund wollte
ihn dieser Umstand an diesem Tag nicht beruhigen.
Deshalb tat er, was er seit langer Zeit nicht mehr getan hatte. Er
wollte sich zwingen seine Umgebung zu genießen. Und tatsächlich, er
hörte fremd gewordene Geräusche. Das Rufen eines Vogels, ein Rascheln
eines Tieres. Er betrachtete die dicken Stämme der Bäume und war selbst
verwundert, dass er dabei nicht als Erstes an den Deal mit den
Südamerikanern gedacht hatte. Seine Gangart änderte sich aber nicht.
Erst als sein Fuß gegen etwas stieß und ein weicher Gegenstand leicht
vom Boden abhob und fast geräuschlos vor ihm landete verharrte er.
Unentschlossen schaute er im Dunkeln auf den Pfad vor sich, wo sich
undeutliche Konturen emporhoben. Er bückte sich und hob einen verloren
gegangenen Teddybär auf. Dieser war kuschelig weich. Durch die
Abendkühle war er leicht feucht geworden, doch lange hatte er noch nicht
hier gelegen. Der Mann hielt ihn mit beiden Händen vor sich und
betrachtete ihn.
Plötzlich wurde ihm bewusst, was er tat und so setzte er den Teddy am
Wegesrand ab und ging weiter. Nach vier Schritten blieb er stehen. Er
drehte sich um und sah hinunter zum Bär, der nach vorne gekippt war.
Der Mann kehrte um und nahm das Kuscheltier auf den Arm.
Wieder ging er weiter, aber diesmal viel langsamer. Er wusste er würde
den Teddybär nicht mitnehmen können. Er ging bis zur nächsten Bank und
setzte sich hin. Er drückte den Teddy fest gegen seine Brust. Welches
Mädchen mochte den verloren haben? Er wusste, wie traurig es nun sein
würde. Tränen rannen seine Wangen runter. Er hatte auch eine Tochter. Er
hielt den Teddybär eine Weile fest.
Dann setzte er ihn vorsichtig neben sich auf die Bank. Er stand auf und
ging. Er ließ den Teddybär zurück. Nur seine Tränen nahm er mit. Auch
seine Trauer begleitete ihn. So wie seine Gedanken an seine Tochter. An
diesem Tag war es vier Jahre her, dass sie gestorben war. Giftige
Beeren.