Der Baum, der Zeuge

Ein satt grüner Teppich zog sich den Hügel hoch. Zart streichelnd fuhr der Wind zwischen den langen Grashalmen hindurch, welche sich müde nach unten bogen. Oben schlängelte sich ein Fahrradweg an einer Weide entlang. Das Grau, nur ein hauchdünner Faden, verbarg es sich schon nach wenigen Metern hinter der gedeienden Natur und wurde für das Auge unsichbar.
Ein einzelner knorriger Baum wachte windschief am Wegesrand. Seine alten Äste ragten wie greifende Hände über eine Bank. Nur wenige Blätter zierten den Zeugen längst vergangener Tage und ließ den Griff noch gieriger erscheinen.
Das Holz von der Witterung rau, hatte die Bank ihre schönsten Tage bereits hinter sich. Wie ein altes Paar schwiegen Bank und Baum selig, lauschten dem Wind, sonnten sich in den letzten Strahlen des Tages. Alt waren sie. Und nichts hatte sie jemals getrennt. Viele Sommer standen sie hier und genau so viele Winter hatten sie gemeinsam überstanden. Doch die Zeit hatte ihre Spuren an ihnen hinterlassen. Die Rinde des Baumes war rissig geworden. Zeichen waren in sie geritzt. Tief waren die Spuren, doch die Schrift war kaum noch zu lesen. Zwei Buchstaben waren es, umrahmt von einer seltsam geschwungenen Linie.
Der dünne, schon etwas länger gezogener Schatten des Baumes fiel nach hinten auf die Weide und ließ den Mann auf der Bank unberührt. In dessen Hand ruhte eine Blume. Eine einzelne nur, und obwohl die Farbe der Blume noch hell leuchtete, wirkte sie genau so wächsern, wie die Haut des Mannes, welcher sie mit seinen dürren und schwachen Fingern hielt.
Auch er war alt – der Mann. Fast so alt wie der Baum hinter ihm. Und auch er trug die Spuren eines langen Lebens. Und nun saß er da, scheinbar friedlich. So wie so oft in den letzten Jahren. Und immer seine Blume in der Hand. Eine Tulpe war es. Rötlich-gelb leuchtete sie, doch aus einem unerklärlichen Grund hatte sie vergessen zu welken. Nur trocken war sie gewurden und leistete dem Alten treu Gesellschaft. Seine Frau hatte diese Blume immer gemocht. Nicht rote Rosen wie andere, nein, diese stacheligen Verführerinnen waren ihr unangenehm. Eine Tulpe aber hatte etwas zartes an sich.
Und diese eine, diese nicht welkende, war übrig geblieben von dem letzten Strauß den der Mann ihr geschenkt hatte. Alle waren sie verwelkt, nur diese eine nicht. Und sie blieb bei ihm, nun da seine Frau es nicht mehr konnte.
Er hatte sie geliebt, er liebte sie immer noch. Dies hier war ihr Platz gewesen. Viele Sommertage hatten sie hier verbracht. Bis vor fünf Jahre noch, der Baum ihr Zeuge. Und nun waren sie alle alt. Und sie hatten nur noch sich. Der Baum die Bank, der Mann die Blume in der Hand.
Seit damals, dem Tag als sie starb, war er immer hier her gekommen, wenn er ihr nah sein wollte. Die Blume stets in der Hand, saß er dort und betrachtete den feurigen Sonnenuntergang. So wie seine Frau ihn stets in seinen Armen genossen hatte.
Auf dem Friedhof hatte er sie noch nie besucht. Denn dafür hätte sie tot sein müssen, und das war sie nicht. Nicht solange er noch lebte. Und das tat auch sie, tief in seinem Herzen, dort wo die Zeit ihr nichts anhaben konnte. Nur ihr Körper war nicht mehr. Er vermisste ihre Wärme, nur die Blume war geblieben. Und an diesen langen Nachmittagen trank er an ihrem Anblick die Liebe seiner Frau, wie aus einem Kelch. Hier konnte er ihr nah sein, von der schwächer werdenden Abendsonne gewärmt.
Wieder einmal kroch die Sonne rot glühend und schläfrig unter den Horizont, auf der anderen Seite des Tals, hinter einem fernen Hügel. Der Mann auf der Bank hatte die Augen geschlossen. Kaum merklich hob das friedliche Atmen seine Brust. Diese Besuche waren alles was er noch hatte. Und oft schlief er ein, geküsst von der Erinnerung, und umarmt von der Liebe, die niemals erlosch. Selig waren diese Momente, kostbarer als alles andere. Der Baum, ihr Zeuge, ein treuer Freund im Rücken.
Langsam entwand sich die Sonne dieser Welt. Nach und nach verschmolzen die langen Schatten und die Farben verblassten zu grauen Konturen, während die Sterne mit ihrem kühlen Licht auftauchten.
Als der Mond aufging, eine dünne Sichel, und das Land in silbriges Licht tauchte, saß der Mann immer noch auf der Bank. Der Wind kaum noch spürbar, wehte die letzte Wärme aus dem Tal empor.
Dann sank der Kopf des Mannes nach vorn, ganz so als schliefe er. Und nun würde er seine Frau doch auf dem Friedhof besuchen. Seine Blume in der Hand, und nie wieder von ihr gehen.

Der falsche Tag

Im Augenwinkel sah er es kommen. Als er realisiert hatte, was geschehen würde, wusste er bereits, dass es unausweichlich war. Sein Griff um das Lenkrad wurde fester. Sein Fuß sprang auf die Bremse.
Seine Schultern zogen sich zusammen. Sein Auto stand und er wartete auf den Knall. Wie verrückt schossen Gedanken durch seinen Kopf. Warum hatte er nicht achtgegeben? Er sah die vorletzte Ampel, die ihn orange-rot vorbei gewunken hatte. Wäre er da stehen geblieben, wäre er nun nicht hier.
Ein lauter Knall ertönte und ein kräftiger Ruck durchfuhr seinen Körper. Sein Auto drehte sich und wurde leicht seitlich gedrückt, während ein schwerer Mittelklassewagen seinen schwarzen Porsche verunstaltete.
Von hinten hörte er eine Hupe lärmen. Ein Unbeteiligter suchte Aufmerksamkeit und musste seinen unnötigen Kommentar abgeben. Dieser Fremde war ihm auf Anhieb unsympathisch. Das zeigte er ihm auch deutlich, als er aus seinem Porsche ausstieg und ihn vorbei wank. Zu dumm, um vorbei zu fahren! Aber Hauptsache Hupen und Glotzen. Obwohl dieser Gaffer stehen blieb und das Fenster runter ließ, ging der Mann auf die andere Seite seines Wagens und betrachtete mit reichlich Unbehagen den Schaden. Doch er konnte nicht viel erkennen. Die dunkelblaue Schnauze des Eindringlings drückte gegen den Motorblock.
Er spürte, dass ihn jemand von hinten anstarrte, und blickte auf.
Eine Frau stand neben ihrem Auto und blickte finster drein.
„Danke der Nachfrage. Mir geht es gut!“
„Gut“, antwortete er und wandte sich seinem Sportwagen zu.
„Gut? Sie denken wohl sie können sich mit ihrem Geld alles kaufen. Sie spinnen doch! Wollen bei voller Fahrt über eine andere Fahrspur hinweg abbiegen und sagen dann, dass alles gut ist?“
„Ist ja nur Blechschaden, das regelt die Versicherung. Für den Rest geht es ihnen gut!“
Ihre Wut kochte hoch, doch sie war so perplex, dass sie ihre Worte nicht geordnet herausbringen konnte.
„Das Gespräch hat für mich den Reiz verloren. Hier meine Karte. Schicken sie mir die Rechnung. Ich kontaktiere meinen Agenten, dass er den Schaden schnellst möglichst begleicht. Danke!“
Er wandte sich ab.
Der Pförtner war inzwischen aus der Bank herbeigeeilt.
„Ah, Herr Günther, gut, dass sie kommen.“ Der Fahrer ging auf den Pförtner zu. Dieser war noch außer Atem und blickte sich irritiert um.
„Füllen sie für mich den Unfallbericht aus.“ Er drückte ihm den Wagenschlüssel in die Hand. „Vielleicht versuchen sie auch den Wagen zu rücken. Er steht etwas ungünstig.“
Die Frau blieb ungläubig stehen und wirkte verwirrt, als der Pförtner die Angelegenheit regeln wollte.
Derweil wartete der Mann auf den Fahrstuhl. Im obersten Geschoss wartete sein aufgeräumter Schreibtisch auf ihn. Er riskierte einen flüchtigen Blick nach draußen, doch von dem Geschehen dort unten war nichts zu sehen. Er schüttelte den Kopf. Ärgerlich war das schon. Er öffnete sein Notebook und feilte an seiner Rede, die er am späten Nachmittag halten würde. Eckdaten glich er mit dem Berichtheft ab, den seine Abteilung angefertigt hatte. Nachdem er einige Seiten durchgeblättert hatte, merkte er, dass seine Änderungswünsche nicht umgesetzt worden waren.
Ungeduldig sprang er auf. Seine Sekretärin war eben eingetroffen und hing ihren Schall um die Jacke am Bügel.
„Guten Morgen Herr Münsner.“
„Morgen.“ Mit zügigen Schritten marschierte er an ihr vorbei.
Er konnte nicht sehen, dass sie die Brauen krauszog. Sie wusste um seine Launen. Und sie wusste, dass heute kein guter Tag war.
„Herr Künbach?!“ Er stürmte hinter der Trennwand hervor. Er blickte sich um, doch dieser war noch nicht da.
Und der will mein Nachfolger werden?, dachte er und drehte auf der Ferse um.
„Frau Rietsche bestellen sie Herrn Künbach zu mir, sobald er gedenkt aufzutauchen.“
Bevor er seinen Tisch erreichte, eilte der Bericht ihm voraus und landete zielgenau neben seinem Laptop. Ihm blieb nur noch Zeit stumm über sich zu fluchen, bevor ein Schäppern ertönte.
„Ach Scheiße!“ Sein Arm machte eine wütende Geste, als die Tasse über den Boden kullerte. Dann wank er ab und stellte sich zur Fensterfront.
Keine Sekunde später stand seine Sekretärin im Raum. Sie sah, was geschehen war, und wischte den Kaffee auf. Frau Rietsche war seit sieben Jahren seine Sekretärin. Sie wusste, was die Stunde geschlagen hatte, und sah ihn eine Weile an, während er bewegungslos vor dem Fenster stand. Nun war es auch fast schon vier Jahre her, dass seine Frau ihn verlassen hatte. Sie wusste warum. Sie empfand Mitleid und ließ ihn allein.
Um Viertel nach acht tauchte Herr Künbach auf. Er war Mitte vierzig. Seine breiten Schultern unterstützten sein selbstbewusstes Auftreten. Als er am Sekretariat vorbei schritt, fing Frau Rietsche ihn ab und flüsterte ihm schnell etwas zu, drückte ihm eine Tasse Kaffee in die Hand und wünschte ihm viel Glück.
Er klopfte gegen die geöffnete Glastür und trat vor den Schreibtisch seines Vorgesetzten. Er wartete, bis dieser ihm Aufmerksamkeit schenken wollte und von seinen Unterlagen aufschaute.
„Herr Künbach!“ Die Stimme klang donnernd.
„Herr Münsner, Frau Rietsche bat mich, ihren Kaffee mitzubringen.“
„Sicher“, ein Zucken umspielte seine Lippen. „Mit Kaffee bringen allein verdienen sie sich aber nicht meinen Stuhl.“
Herr Künbach nickte zustimmend, ließ sich aber davon nicht beeindrucken.
Seine Beförderung war beschlossene Sache und Herr Münsner war daran nicht ganz unbeteiligt, wie er aus anderen Kreisen vernommen hatte. Herr Münsner hatte es geschafft innerhalb kürzester Zeit einige beachtliche Karrieresprünge hinzulegen. Meistens war er der Erste, der kam und nicht selten begegnete er dem Nachtwächter, wenn er ging oder ließ sich von diesem das bestellte Essen bringen, wenn er die Nacht über im Büro blieb. Das Sicherheitsprotokoll verbot den Lieferdiensten, die oberen fünf Etagen zu betreten. Das war eine der vielen Regeln, die er selbst eingeführt hatte. Datensicherheit und Effektivität waren seine größten Sorgen. Er hatte dem Unternehmen seinen Stempel aufgedrückt. Dabei war er selbstverständlich auf reichlich Widerstand gestoßen. Doch die meisten seiner Widersacher arbeiteten heute bei Mitbewerbern. Wer klug war, hatte sich auf seine Seite gestellt und ist in seinem Sog die Karriereleiter raufgefallen.
Herr Künbach war einer davon.
„Sie kommen spät!“
„Verzeihen sie der Verkehr hatte heute gestaut.“
„Dann fahren sie Bus, wenn sie nicht Autofahren können!“
Herr Künbach schluckte seine Antwort hinunter.
„Sie haben noch die Notizen zum Bericht?“ Herr Münsner legte den Bericht so, dass Herr Künbach ihn erkennen konnte, und passte auf, den Kaffee diesmal nicht zu treffen.
Künbach nickte. Er hatte gelernt, dass sein Gegenüber in dieser Stimmung auf jedes Wort allergisch reagieren konnte.
„Dann sorgen sie dafür, dass sie auch eingearbeitet werden. Bis spätestens 14 Uhr liegen 20 Exemplare eines makellosen Berichtes auf meinem Schreibtisch!“
Diesmal musste Herr Künbach schlucken. Er wusste, dass es nicht sein Fehler gewesen war. Eine Ausrede, sei sie noch so begründet, würde ihm nur eine Schlinge um den Hals legen.
Er nickte, nahm den Bericht und ging einige Schritte rückwärts.
Herr Münsner wandte sich seinen Unterlagen zu. Herr Künbach war heilfroh den Raum verlassen zu können.
„Und Herr Künbach?“
Der Gerufene kniff die Augen zu, drehte sich dann aber seitlich.
„Und bringen sie sich ein Exemplar mit. Ich möchte sie dabei haben, wenn ich denen sage, dass sie ab nächster Woche dieses Projekt übernehmen.“
Herr Künbach nickte abermals und beeilte sich hinaus zu können.
Wenig später stand unangekündigt eine Person im Türrahmen.
„Habe ich mich nicht klar ausgedrückt?“ Er ließ sich nicht herab, von seiner Arbeit abzulassen und markierte eine wichtige Passage.
„Verzeihen sie.“
Diese Stimme hatte Herr Münsner noch nie im Büro vernommen und so blickte er doch auf und erkannte den Pförtner, der unbeholfen da stand.
„Wenden sie sich an meine Sekretärin. Wieso glauben sie wohl bezahle ich die?“
„Verzeihen sie.“ Der Pförtner wünschte sich in Luft aufzulösen und suchte vergebens nach Worten.
Herr Münsner wollte so wenig Zeit wie möglich verlieren und wank ihn hinein. Je schneller dieser sagte, was er wollte, je schneller war er wieder weg.
„Verzeihen sie, ich habe mir erlaubt die“ er schaute kurz aus dem Fenster. „Angelegenheit selbst zu regeln. Ich wollte so wenig wie möglich Aufsehen erregen.“ Er nickte in Richtung Sekretariat.
Herr Münsner lachte erfreut.
„Mal einer, der mitdenkt!“ Herr Münsner stand auf und ging auf den Pförtner zu. „Und?“
„Und der Wagen ist in der Werkstatt.“
Herr Münsner nahm die Visitenkarte, die der Pförtner ihm reichte.
„Ein angemessenes Ersatzauto können sie erst gegen 15 Uhr vorbei bringen.“
„Danke, ich rufe selbst da an und spreche das mit denen ab.“ Er steckte dem Pförtner 50 Euro zu und komplimentierte ihn mit einer Geste hinaus.
Der Pförtner hatte ihm ermöglicht der Blöße zu entgehen und so wollte er die Gelegenheit nutzen und rief sogleich die Werkstatt an, sie sollten ihm das Auto nach Hause bringen und den Schlüssel durch den Briefschlitz in der Tür schieben.
Daraufhin kreisten seine Gedanken um wichtigere Dinge. Der Morgen und der Nachmittag verflogen so ereignislos, wie an jedem anderen Tag auch. Er ärgerte sich und ärgerte sich, dass er sich ärgerte und seine einzige flüchtige Freude war, dass er alle dazu brachte, mehr oder weniger zu spuren.
Die Hektik, die ihn in dieser Woche beflügelte, genoss er in vollen Zügen. Sehr zum Leidwesen aller, die ihn an diesem Tag zu sehen oder zu hören bekamen.
Es war spät am Abend, als er aus dem Fahrstuhl in die Tiefgarage trat. Diese war zu dieser Stund fast leer und erst da wurde ihm wieder bewusst, dass sein Wagen heute nicht auf ihn warten würde.
Gleichgültig zuckte er mit den Schultern und nahm der Seitenausgang aus der Tiefgarage.
Ein kühler Wind empfing ihn, als er auf den menschenleeren Bürgersteig trat. Dann würde er eben ein Taxi nehmen. Doch dazu war er auf der falschen Seite der Bank. Er ging in Richtung Taxistand, verlor dann aber die Lust, so früh zu Hause zu sein. Eigentlich, so dachte er, würde die frische Luft ihm auch einmal gut tun. Er überquerte die breite Straße und war nach wenigen Hundert Schritten im Stadtpark. Dieser würde ihn mit einigen Unterbrechungen und einem kleinen Umweg nach Hause führen.
Dass er den ersten Teil bereits hinter sich hatte, wurde ihm bewusst, als er eine weitere Hauptstraße überquert hatte und den nächsten Wald betrat.
Sein Tempo zeigte die gleiche Ungeduld, die er auch im Büro an den Tag legte.
Als er auf seine massive Armbanduhr sah, erklärte diese ihm, dass er mit dem Taxi kaum schneller gewesen wäre. Doch aus irgendeinem Grund wollte ihn dieser Umstand an diesem Tag nicht beruhigen.
Deshalb tat er, was er seit langer Zeit nicht mehr getan hatte. Er wollte sich zwingen seine Umgebung zu genießen. Und tatsächlich, er hörte fremd gewordene Geräusche. Das Rufen eines Vogels, ein Rascheln eines Tieres. Er betrachtete die dicken Stämme der Bäume und war selbst verwundert, dass er dabei nicht als Erstes an den Deal mit den Südamerikanern gedacht hatte. Seine Gangart änderte sich aber nicht.
Erst als sein Fuß gegen etwas stieß und ein weicher Gegenstand leicht vom Boden abhob und fast geräuschlos vor ihm landete verharrte er. Unentschlossen schaute er im Dunkeln auf den Pfad vor sich, wo sich undeutliche Konturen emporhoben. Er bückte sich und hob einen verloren gegangenen Teddybär auf. Dieser war kuschelig weich. Durch die Abendkühle war er leicht feucht geworden, doch lange hatte er noch nicht hier gelegen. Der Mann hielt ihn mit beiden Händen vor sich und betrachtete ihn.
Plötzlich wurde ihm bewusst, was er tat und so setzte er den Teddy am Wegesrand ab und ging weiter. Nach vier Schritten blieb er stehen. Er drehte sich um und sah hinunter zum Bär, der nach vorne gekippt war.
Der Mann kehrte um und nahm das Kuscheltier auf den Arm.
Wieder ging er weiter, aber diesmal viel langsamer. Er wusste er würde den Teddybär nicht mitnehmen können. Er ging bis zur nächsten Bank und setzte sich hin. Er drückte den Teddy fest gegen seine Brust. Welches Mädchen mochte den verloren haben? Er wusste, wie traurig es nun sein würde. Tränen rannen seine Wangen runter. Er hatte auch eine Tochter. Er hielt den Teddybär eine Weile fest.
Dann setzte er ihn vorsichtig neben sich auf die Bank. Er stand auf und ging. Er ließ den Teddybär zurück. Nur seine Tränen nahm er mit. Auch seine Trauer begleitete ihn. So wie seine Gedanken an seine Tochter. An diesem Tag war es vier Jahre her, dass sie gestorben war. Giftige Beeren.

Die Glaswand

Samstag, stand es groß und schwarz auf dem Kalender. Drunter groß eine Zahl, bedeutungslos, denn sie änderte nichts. Der Monat verriet teilnahmslos den Beginn des Frühlings, welcher sich noch hinter einer gräulich leuchtenden Wolkendecke versteckte. Recht früh war es noch. Der Morgen angebrochen wie die Tage davor, die Wochen, die Monate. Es bedeutete nichts. Nur Zahlen wie die auf dem Schreibtisch. Gefangen und doch mächtig in den aufgehäuften Akten. Leblos und ergreifend, fesselnd lagen sie da und taten unschuldig. Aufgeräumt sah der Schreibtisch aus. Die Lampe darauf glühte nicht, einzig das große Fenster spendete ein kaltes fahles Licht. Dennoch saß ein Mann davor, sinnend, und starrte auf die dicke Holzplatte. Sein Gesicht müde, versuchte er es mit reiben zum Leben zu erwecken. Doch sein Blick blieb kraftlos, hilflos suchend. Wochenende war es, doch das kannte er nicht. Er wollte arbeiten. Die Akten wälzen, das musste er, denn die nächste Woche kam gewiss. Aber er bewegte sich nicht. Fand den Anfang nicht. Saß einfach nur da, makellos sein Erscheinen, gerade sein Rücken, sah er aus, als würde er jeden Augenblick loslegen. Doch die digitale Uhr zerstückelte die Zeit in Zahlen, leblos, bedeutungslos, und es änderte sich nichts. Die Wände ansich weiß, wirkten sie im matten Licht grau und kalt. Groß war der Raum und ließ alles leer erscheinen. Die weichen Ledersessel, verloren im Zimmer umher stehend, verteidigten sie mächtig den makellosen Eindruck von Luxus. Doch die Welt bekam Risse. Pochend schlug die Leere ihre Brechen in diesen Schein und drückte schwer auf den kalten Glanz. Der Mann hatte seinen Kopf in seine Hände sinken lassen und hielt sich mit ihnen die Ohren zu, als wollte er die Schreie ersticken, welche nur er hören konnte. Sie schrien nach ihm, als wollten sie ihm etwas sagen. Doch er wusste was diese Stimmen sagen wollten, und er wollte es nicht hören. Was wussten die schon – diese rastlosen Stimmen, die ihn auch in seinen Träumen verfolgten. Sie wollten ihn bremsen. Voller Neid waren sie wegen seinem Erfolg. Kein Wunder dass sie so verzweifelt schrien. Er verharrte, genau wie seine Einrichtung, beleuchtet vom fahlen Licht welches von den Wänden zurück geworfen wurde. Sein Rücken war dem Fenster zugewandt und so konnte er nur in seinen endlosen Raum hinein starren. Doch auch den sah er nicht. Er bedeutete ihm nichts. Endlich stand er auf. Langsam, als wäre er ein alter Mann. Sein Gesicht verzerrte sich zu einem tonlosen Gähnen, während er seine Arme auseinander riss als versuche er aus seinem Körper auszubrechen. Als er sich umdrehte stand er gleich vor dem Fenster, welches bis an die weit entfernte Decke reichte. Viele Meter lang war dieses und ersetzte eine ganze Wand. Weiß erschien der Himmel, stark durchflutet von Licht, die grauen Wolken, ohne dass die Decke irgendwo aufriss. Der Blick des jungen Mannes glitt langsam von einer Seite zur anderen. Gleichmäßig die Bewegung, unberührt von dem was er sah. Kein Hindernis stellte sich ihm in den Weg, nichts das seinen Blick fest halten konnte. Die Augen zugekniffen, geblendet von der gleichmäßigen Flut weißen Lichts, stand er da, leblos, wie die Sessel im Raum hinter ihm. Nur die Uhr wechselte ihr Gesicht, krampfhaft an der Zeit klammernd, die doch wie Wasser zerrann. Draußen eine weite Wiese, nach dem Winter noch ungemäht, war sie umrahmt von Hecken, einige Bäume standen verloren darin. Endlich schien der Mann etwas zu bemerken. Ihm fiel auf wie der Wind in den Ästen spielte. Er hielt den Atem an, horchte, doch das Rascheln der tänzelnden Blätter fehlte. Er strengte sich an, doch er fühlte nichts. Er stand einfach nur da. Starrte raus, und sah nichts. Es war ihm alles fremd, und so fern. Er versuchte sich zu erinnern, doch es blieb ihm verborgen. Die Welt da draußen, er hörte sie nicht, er fühlte sie nicht. Nah am Fenster wackelte ein Ast. Ein Vogel, eben gelandet, trällerte sein Lied. Doch nur der Schnabel bewegte sich. Das Fenster schluckte jedes Geräusch. Stummfilm, sein Leben, es war draußen, ausgeschlossen. So fern und unerreichbar wie jedes Gefühl. Wie ein Zeitzeuge starrte er genauso fasziniert wie gelangweilt durch das Glas. Sein Blick, wie der eines Mannes, der aus weiter Ferne die Welt wie durch eine Scheibe betrachtet. Gefangen in der Nüchternheit, der Leere seines Hauses. Wieder bewegte sich was. Ein Junge tanzte lachend auf dem Rasen. Wochenende, sein Sohn wusste das, und spielte mit dem Drachen. Ein Geschenk aus einer lange vergangenen Zeit. Hoch flog er, lebhaft spielten sie. Der Drache, sein Sohn und der Wind. So wie er es getan hatte – früher – in einer anderen Welt. In einer, in der er den Wind noch gespürt hatte. Als wäre es nur eine Erinnerung stand er da und starrte hinaus. Gefangen wie ein Fremder in seinem eigenen Körper. Sinnend drehte er sich um, sah den Schreibtisch. Das Gesicht der Uhr schrie ihn an. Eine andere Stimme war es. Mächtig, beide kämpften, wie Teufel und Engel auf seiner Schulter. Dann zog er seinen Stuhl hervor und setzte sich. Nahm wahllos eine Akte in seine Hand. Welche, war bedeutungslos. Ein letztes Mal drehte er sich um. Der Himmel leuchtend weiß blendete ihn. Wie einen Schatten sah er seinen Sohn lachen und weinen, sah wie dieser Glück empfand, würde es gerne mit ihm teilen, ihn in den Arm nehmen, aber er konnte es nicht, weil die Scheibe ihn zurück hielt. Und wenn er es trotzdem versuchen würde, würde er nur die Kälte des Glases spüren. Er würde erdrückt werden, weil die Welt so voll und er selbst so leer war.

Sophies Referat


Sophies Handy vibrierte auf dem Nachhauseweg. Anna wollte wissen, wann sie sich treffen könnten. Was das bringen sollte wusste Sophie nicht. Schließlich hatten beide keine Ahnung, wie sie das angehen sollten. Genervt steckte sie ihr Handy weg, ohne zu antworten. Das konnte auch warten. Schließlich hatten sie jetzt erst einmal Ferien. Sie war immer noch wütend, dass ihr Geografielehrer ihnen dieses Referat in der letzten Stunde aufgebrummt hatte, um ihnen die Ferien zu vermiesen. Typisch Lehrer, als würden sie nicht wissen, dass Ferien auch Ferien sein sollten.
Sie kam rein und ging gleich in ihr Zimmer und verstaute sorgsam ihre Schultasche unter dem Schreibtisch, bevor sie in die Küche ging.
„Na mein Schatz“ Ihre Mutter war gut gelaunt und kochte Sophies Leibgericht.
Das munterte sie ein wenig auf. Mit einem hörbaren Seufzen ließ sie sich auf der Eckbank am Küchentisch nieder.
Ihre Mutter lächelte ihr zu und nickte in Richtung Schlafzimmer. Sophie schüttelte den Kopf und machte ihrem Frust Luft.
„Nicht, dass ich aus Versehen an Schule denken muss“, meinte Sophie und lachte gespielt gequält. Normalerweise landete ihr Rücksack unweit der Haustür in einem Eck, wenn sie aus der Schule kam.
„Hast ja jetzt auch Ferien“, besänftigte ihre Mutter Sophie.
„Sag das mal meinem Lehrer!“, antwortete sie und ließ ihren Ärger mit einem „mhh lecker“ verfliegen, als ihre Mutter zwei Teller Spaghetti auftischte und sich neben sie setzte.
Mit vollem Mund fragte sie ihre Mutter aus, was sie alles im Urlaub machen konnten.
Morgen früh war Abfahrt. Sie hatte aber noch Einiges zu packen. Dabei galt es zwei Probleme gleichzeitig zu lösen – Auswahl treffen und alles in den Koffer bekommen. Wer auch immer dieses Universum erschaffen hatte, dachte Sophie, hätte für dieses Dilemma eine Lösung vorsehen sollen.
Gegen sieben kämpfte sie sich mit ihrem Koffer die Treppe runter. Die letzten fünf Stufen ging es schneller als beabsichtigt und sie war erleichtert, als der Koffer nicht aufsprang, als dieser unten landete. Es hatte einiges an Gewalt gekostet ihn zu schließen.
„Das klingt gefährlich“, lachte ihr Vater aus dem Wohnzimmer. „Lebst du noch?“
Sophie rollte den Koffer in den Flur, bevor sie zu ihm ging und sich der Länge nach auf die Couch legte. Sie gab ein erschöpftes Seufzen von sich, während ihr Vater im Sessel daneben ihr liebevoll den Rücken kraulte und gleichzeitig fernsah.
„Man hat es schon schwer“, stichelte ihr Vater.
Brummend gab sie ihm recht.
Eine Weile sprach niemand. Ihr Vater schaute die Nachrichten, während Sophie eigenen Gedanken nachging. Für die Probleme der Welt hatte sie wenig übrig. Die Meisten davon waren ohnehin menschgemacht und Sophie hatte noch nie verstehen können, wieso die Menschen so selten dämlich sein konnten.
Ohne besonderes Interesse an dem, was sie sah, blickte sie dennoch in Richtung der flimmernden Bilder. Sie sah Bilder von Krieg und Zerstörung, Politiker die andere beschimpften böse zu sein und Opfer, die nicht verstanden, was vor sich ging – Bilder, wie man sie jeden Tag sah. Eben nichts was wirklich neu war.
Plötzlich kam ihr ein Gedanke, als sie einen dicken Mann sprechen sah, der den Eindruck erweckte wichtig zu sein.
„Papa?“ Vielleicht konnte er ihr helfen, schließlich kannte er sich mit vielen Dingen aus, die ihr nicht wirklich sinnvoll erschienen.
„Mein Kind?“ Ihn interessierten die Nachrichten heute auch nicht, sonst hätte er den Kopf geschüttelt.
„Was ist Ökodumping?“
Ihr Vater war verwirrt. Er blickte sie verwundert an und wandte sich dann einige Augenblicke dem Fernseher zu, als könnte er sich daran erinnern, worauf Sophie ihre Frage bezog. Ihm fiel aber kein Beitrag ein, der damit zu tun hatte.
„Wieso? Was soll damit sein?“
„Ach, Anna und ich sollen ein Referat darüber halten.“
Ihr Vater sah sie überrascht an.
Sie zuckte mit der Schulter.
„Ich glaube meinem Lehrer war langweilig.“
Er lachte amüsiert aber leise, um Sophie nicht zu kränken.
Er überlegte eine Weile. „Das ist eigentlich einfach.“ Er suchte nach einem Beispiel, mit dem er es erklären konnte.
„Aber das ist ein sehr ernstes Problem.“ Er machte den Ton vom Fernseher aus. Es machte ihm Freude, wenn seine kleine Prinzessin sich für solche Dinge interessierte. Früher hatte sie ihn immer mit Fragen gelöchert, doch in letzter Zeit hatte das nachgelassen.
Umso mehr gab er sich nun Mühe, es ihr verständlich zu machen.
„Du weißt, was Dumpingpreise sind?“
„Das ist, wenn etwas ganz billig ist oder?!“
„Genau. Das ist, wenn ein Händler versucht den anderen im Preis zu unterbieten, damit er die Produkte verkauft und nicht der Andere.“
„Aber dann kann der ja auch den Preis senken?“
„Genau und schon sind wir in einem Teufelskreislauf, wenn einer unbedingt viel verkaufen möchte. Er senkt den Preis, der andere zieht nach, dann senkt der eine wieder den Preis.“
„Aber das ist doch gut, dann bekommen wir die Sachen billig.“
„Ja, aber das ist nicht immer gut. Wir bekommen nämlich auch billige Sachen.“
„Sag ich ja und das ist doch gut.“
„Wie weit wird der Preis denn sinken?“
„Soweit wie es geht“, lachte Sophie und freute sich, während sie sich das gute Geschäft vorstellte, das sie machte, wenn sie ein Schnäppchen fand.
„Nun, erst einmal soweit bis einer nicht billiger produzieren kann. Das stimmt.“ Er sah seine Tochter nickend an. Dann wartete er, bis ihr Lachen nicht mehr ganz so heiter war und sie bereit war, darüber nachzudenken.
„Dann steht der eine mit dem höheren Preis vor einem Problem“, fuhr ihr Vater fort.
Sophie überlegte und versuchte zu verstehen, warum ihr Vater das nicht lustig fand. Sie versuchte sich in die Lage des Verkäufers zu versetzen.
„Er verkauft dann nichts und geht pleite“, meinte Sophie und zog die Stirn kraus.
„Oder?“ Ihr Vater ermutigte sie, den Gedanken zu Ende zu führen.
„Oder er versucht auch billiger zu produzieren.“
„Und wie soll das gehen?“
Sophie zuckte mit der Schulter und sah ihren Vater an.
Doch dieser wollte, dass seine Tochter es selbst aussprach. In ihrem Unterbewusstsein wusste sie es längst.
„Er wird billigere Materialien nehmen.“
Ihr Vater nicht zustimmend.
„Schlechtere Qualität?!“ Sophie sprach es leicht gequält aus.
„Und der Andere dann?“
„Der auch?“
„Giftige Stoffe?“, fragte ihr Vater.
„Nein!“, antwortete Sophie, ohne zu zögern, und war entrüstet. „Das darf er nicht, dafür gibt es Gesetze.“
„Darf er denn die Umwelt verschmutzen, wenn er dadurch billiger produzieren kann?“, fragte ihr Vater weiter.
„Nein, auch dafür gibt es Gesetze!“ Sophie fragte sich, wie ihr Vater nur auf so merkwürdige Ideen kam.
„Gibt es die?“
„Natürlich! Das muss so sein.“ Sie richtete ihren Oberkörper auf und blickte ihren Vater finster an.
„Viele Dinge müssen so sein. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass sie so sind.“ Ihr Vater sprach beschwichtigend und fuhr ihr liebevoll über den Rücken.
„Ja, aber“ Sophie regte sich auf.
„Eigentlich hast du jetzt schon verstanden, was Ökodumping ist.“
Sophie antwortete nicht und zog ihren Mund kraus.
„Einzelne Firmen können nicht alles frei entscheiden, was sie wollen. Sie können sich an Gesetze halten oder die Anforderung sogar übertreffen, wenn sie es sich leisten können und Kunden ihre Produkte auch kaufen, wenn sie teurer sind. Wenn sie aber gegen Gesetze verstoßen um ihre Kosten zu drücken, dann müssen sie mit Strafen rechnen.
Einige Länder haben sich aber dazu entschlossen keine oder zu wenige Gesetze einzuführen, die die Umwelt schützen. Das gibt den inländischen Unternehmen den Vorteil kostengünstiger zu produzieren und sich dadurch international mit ihren Produkten aufgrund der geringeren Preise durchsetzen zu können.“
„Aber warum machen die das? Das zerstört doch die Umwelt!“ Sophie wollte das nicht verstehen.
„Das machen auch nur Entwicklungsländer, denen die Zukunft weit weniger wichtig ist. Sie wollen jetzt Geld verdienen. Dass Menschen deswegen vergiftet werden, ist denen egal – Geld regiert die Welt, das musst du dir merken.“
Er strich ihr weiter über den Rücken, als könnte das die Wahrheit angenehmer erscheinen lassen.
„Aber das ist ja asozial! Scheiß Geld!“
„Das wird sich legen. Lass die Länder sich erst einmal entwickeln, dann werden sie auch sie fortschrittlich denken wie wir.“
Er lächelte ihr aufmunternd zu.
„Ökodumping ist ein Preiskampf, der auf Kosten der Natur durchgeführt wird.“ Er wollte seine Antwort abschließen. „Wenn du magst, dann helfe ich euch, wenn du und“ er machte eine unbeholfene Bewegung mit der Hand.
„Anna“, vervollständigte Sophie.
„… und Anna am Referat arbeitet. Dumping kann eigentlich auf Kosten von vielen Dingen betrieben werden. Auf Kosten der Umwelt, der Gesundheit oder von Menschenrechten. Aber genau so kann es auf Kosten zukünftiger Generationen geschehen, wenn deren Potenziale zerstört werden.“
Sophie blickte finster drein und schaute dem Fernsehsprecher zu, wie er als Stummfilm das Wetter präsentierte – heiter bis bewölkt.
„Hab ich dir weiter geholfen?“
„Irgendwie schon“, brummte sie und sah in Gedanken Giftfässer im Wasser schwimmen.
Ihr Vater fuhr ihr über den Kopf und zerzauste ihr Haar, dann stand er auf.
„So jetzt muss ich aber. Ich will noch schnell tanken fahren. Morgen geht es ab in den Urlaub.“
„Wir können ja auch unterwegs tanken“, meinte Sophie leicht abwesend.
„Ich bin doch nicht dumm und tanke in Deutschland“, lachte er vergnügt. „Außerdem brauch ich noch eine Stange Zigaretten. Ein Glück sind die nicht auch noch teurer geworden.“

Herrin der Dächer

Seit Wochen war es bitterkalt. Asylma war auf das Dach geklettert. Das Moos unter ihren Füßen war schmierig, dennoch ging sie unbekümmert weiter. Die Burg war ihr Reich, und niemand kannte sich auf den verschachtelten Dächern so gut aus wie sie. Vater würde schimpfen, wenn er wüsste, dass sie erneut hier umherschlich. Aber davon ließ sie sich nicht beirren. Ohnehin hatte sie den Eindruck als würde die Welt nur aus Verboten bestehen. Geh nicht dorthin! Lauf nicht in den Fluren! Sieh den Rittern nicht in die Augen! Knie nieder, wenn der Herr an dir vorbei schreitet! Sei still!
Nur auf den Dächern fühlte sie sich frei. Hier gab es keine Regeln, niemanden, der ihr etwas vorschrieb. Hier war sie die Herrin. Sie blieb an einem kleinen Turm stehen und dachte nach. Unter ihr, bis hinunter ins Tal, lag ein Meer aus Dächern. Sie konnte sehen, wie der Gestank in Schwaden emporstieg. Dieses Bild gab es nur im Winter. Die Dächer der Burg schenkten ihr Einblicke, die den meisten verborgen blieben. Sie stand oft so da und sah anderen dabei zu, wie sie unter ihr umher blickten. Sie waren oft nah und doch schienen sie unendlich weit weg. Wie in einer anderen Welt oder einer anderen Zeit. Hektisch oder stocksteif erfüllten sie ihre Pflichten.
Heute blieb sie aber nicht lange stehen. Es waren nicht viele Leute unterwegs. Wer hinaustrat goss oft bloß seinen Dreck auf die Straße und suchte schnellst möglich die Tür wieder von innen zu schließen. Der blecherne Klang der Patrouillen blieb heute aus. Wer nur konnte hatte sich in einen der zahlreichen kleineren Türme zurückgezogen oder hockte neben einem Eimer mit glühendem Holz. Der König war streng, aber er wusste wessen Treue er sich nicht verscherzen durfte.
Jetzt war sie frei, Herrin über alle Dächer dieser Burg. Am liebsten wäre sie den ganzen Tag über die Dächer geschlichen, doch die winterliche Kälte nahm sich ihrem dürren Körper schnell an. Die zerschlissenen Kleider waren dagegen machtlos und so kapitulierte sie und ging zurück zum Turm. Vor dem Fenster lauschte sie kurz ob sie keine Schritte hörte, dann kletterte sie vorsichtig hinein. Ihre Finger schmerzten als sie die Steine anfasste. Es fühlte sich an, als wären ihre Hände gefroren und als würden ihre Finger bei der nächsten Bewegung abbrechen. Doch das beunruhigte sie nicht weiter. Der Schmerz war ein treuer Begleiter und so brachte sie es fertig, nicht so oft an ihren Hunger zu denken. Sie schlich die Treppe hinunter und verschwand in einer Nische. Eine vertraute Stimme drang zu ihr durch, gedämpft von einer dicken Mauer. Ein Schmunzeln der Vorfreude stahl sich auf ihre Lippen. Letzten Winter hatte Asylma ein neues Versteck entdeckt.
Sie zwängte sich hindurch, es wurde immer schmaler und niedriger. Den letzten Meter musste sie sich auf den steinernen Boden legen. Mit den Füßen stieß sie sich weiter, mit einer Hand ertastete sie den Weg und mit der anderen schützte sie ihr Gesicht vor den scharfen Steinen. Allmählich wurde die Stimme deutlicher. Es war Gertrude, eine der zahlreichen Dienstmägde.
Der Hohlraum wurde erst breiter, dann höher, als sie am anderen Ende des Raumes angekommen war. Der Gedanke amüsierte sie, unter den Füßen der anderen zu schleichen, ohne dass diese etwas davon ahnten.
Endlich war sie dort angekommen, wo sie hinwollte und richtete sich auf. Es war ein dunkler Ort, aber vor allem im Winter war es, seit sie diesen Baufehler der Burg kannte, zu ihrem Lieblingsort geworden. Sie setzte sich auf einen Steinhaufen nahe der Wand, den sie dort mühsam errichtet hatte. Wohlige Wärme durchströmte ihren Körper. Ihre Hände legte sie gegen die Wand hinter sich. Ein schmerzhaftes Kribbeln brachte erneut Leben in ihre Finger. Einige Minuten war sie damit beschäftigt ihre Haut gegen die Wand zu drücken. Dann erst nahm sie wieder die Stimmen wahr, die nun dicht neben ihr ertönten.
Es war immer noch Gertrude, die hauptsächlich sprach. Vorsichtig nahm Asylma einen lockeren Stein aus der Wand. Die Luft, die ihr ins Gesicht blies, war angenehm warm und führte einen Duft mit sich, der ihr das Wasser im Mund zusammen laufen ließ. Durch einen Spalt sah sie wie Elisabeth, die Tochter des Königs, an Marzipanoblaten naschte. Gertrude war derweil damit beschäftigt Elisabeths Haar zu kämmen. Immer wieder musste Elisabeth kichern. Gertrude war nicht die Fleißigste unter den Bediensteten, aber sie verstand es lebensecht zu erzählen. Asylma war immer wieder aufs Neue verwundert, wie Gertrude all das gewahr wurde. Besonders wenn Gertrude intime Details der jüngeren Söhne anderer Adliger ausplauderte, musste Elisabeth kichern. Gertrude hatte eine Art zu erzählen, dass es meist verboten verschwörerisch klang. Elisabeth konnte es nicht intim genug werden und fragte fordernd aber auch gebannt nach mehr Einzelheiten. Gertrude enttäuschte sie nicht und versorgte Elisabeth mit Klatsch und Tratsch.
Asylma fragte sich oft, woher Gertrude das alles wusste. Wahrscheinlich war ohnehin das meiste davon frei erfunden. Aber es verfehlte seine Wirkung nicht. Während andere hart arbeiten mussten, hatte sie sich die Gunst der Prinzessin verschafft und konnte einen großen Teil schwatzend und wohlgenährt in einem der wenigen beheizten Räume verbringen.
Asylma und Elisabeth waren im gleichen Alter, doch um ihre Gunst, so dachte Asylma, war noch nie jemand bemüht gewesen. Dabei war sie es die nähen, kochen und putzen konnte. Sie war es, die sich nicht zu schade war, um den Schweinestall zu misten oder Hühner zu rupfen. Und sie war es, die fleißig lernte, sobald sie nur irgendjemanden fand, der ihr etwas beibringen konnte und wollte.
Bruder Johannes, ein alter Pater, hatte ihr Lesen und Schreiben beigebracht, wenn immer sie es geschafft hatte, ihm im Hospiz Gesellschaft zu leisten. Drei ein halb Jahre hatte er dort gelegen, nachdem er von einem Apfelbaum im Garten des Klosters runtergefallen war und fortan gelähmt im Bett gelegen hatte. Im vergangenen Herbst war er nach einem heftigen Fieber gestorben. Zwei Bücher hatte er ihr heimlich überlassen. Eine Bibel und ein Buch, das ihm ein Fremder geschenkt hatte – sein wertvollster Schatz, wie er stets behauptet hatte. Es war eine schlichte Fassung einer Übersetzung. Das Original, sagte er, stammte aus dem Land indem die Sonne als erstes aufging. Asylma erinnerte sich an das, was er immer zu sagen pflegte: Alle Menschen sind gleich. Alle werden sie als leeres Fass geboren. Manche sterben als leeres Fass, manche stopfen sich voll und sterben als Fass voller verfaulter Speisen. Manche glauben etwas zu lernen und befüllen es mit Wasser und wenige an der Zahl sind offen für alles Wissen und entscheiden, was wirklich wichtig ist. Wenn so einer stirbt, hinterlässt er ein Fass mit dem edelsten Wein. Dieses Buch wäre ein solches Fass.
Asylma hatte lange nicht verstanden, was er damit sagen wollte, doch allmählich glaubte sie der Lösung des Rätsels näher zu kommen. Auch wenn ihr noch etliches unklar blieb.
Wie konnten alle Menschen gleich sein, wenn sie es doch offensichtlich nicht waren.
„Au“, stieß Elisabeth verärgert hervor und drehte sich zu Gertrude um, die erschrocken inne hielt. „Pass doch auf, du tust mir weh!“
„Verzeiht, ich hätte vorsichtig sein müssen.“
„Ach, schon gut. Es reicht ohnehin jetzt. Geh und hol mir ein Glas warme Mich mit Honig.“
„Sehr wohl, Milady.“ Gertrude machte einen Knicks und ging rückwärts zur Tür.
„Und nimm den Braten mit. Ich habe keine Lust, dass ich nachher nach diesem toten Tier stinke.“
Asylma sah erst jetzt, nachdem Gertrude sich bewegt hatte, den Urquell des Duftes, der ihr das Wasser im Mund zusammen laufen ließ. Der Braten war kaum angerührt.
Gertrude ging raus und nahm ihn nur allzu gern mit. Das war ihr Lohn für die Intrigen, das Belauschen und Lästern und dafür, dass sie die Launen der Prinzessin über sich ergehen ließ.
Elisabeth stand auf und stellte sich vor den Kamin. Asylma war nun kaum mehr als eineinhalb Meter von ihr entfernt. Ihr Herz begann zu rasen, dann beruhigte sie sich. Bis jetzt hatte niemand sie bemerkt, obwohl sie einen großen Teil des Raumes überblicken konnte. Hinter ihr war es finster und die Flammen im Kamin blendeten jeden, der in ihre Richtung blickte.
Elisabeth stierte gelangweilt in die Flammen. Sie fuhr sich mit einer Hand durch ihre langen braunen Haare, die glatt an ihrem runden Gesicht herunter fielen. Sie trug ein langes seidenes Überkleid, das zu eng war für ihren fülligen Leib. In der anderen Hand hielt die Prinzessin eine Marzipanoblate an der sie gelegentlich herum knabberte.
Was würde Asylma darum geben, die gleichen Chancen zu haben. Elisabeth war faul und dumm. Asylma hatte allzu oft gehört, wie die Prinzessin mit ihren Lehrern umsprang. Asylma nutzte jede Ausrede, jede Gelegenheit um hier zu sein, wenn Elisabeth eine Lehrstunde hatte. Asylma war eine fleißige Schülerin, von deren Existenz die Professoren nichts wussten. Was würde sie darum geben Fragen stellen zu dürfen. Doch das konnte sie nicht. Nicht die Wand war das Problem. Nein, das Problem war, dass sie nicht jenseits der Wand geboren war. Hätte nicht ihre Mutter sie auf die Welt gebracht, sondern die Königin, dann müsste sie nicht im Dunkeln kauern.
Alle Menschen sind gleich? Wie sollte das möglich sein, wenn es schon ausreichte auf dem falschen Meter auf die Welt zu kommen, um auf ewig gebrandmarkt zu bleiben.
Elisabeth fuhr mit der Oblate zum Mund und biss ein kleines Stück ab, während ein weitaus größeres von ihr unbeachtet zur Erde fiel.
Bruder Johannes hatte recht gehabt. Jetzt erkannte sie es. Alle Menschen waren in einer Sache gleich. Alle wurden sie als leeres Fass geboren. Nur werden manche Fässer mit Gold und Silber geschmückt, andere werden in den Dreck gestellt bis sie verrotten und wieder andere werden in dunklen Grotten eingesperrt, damit sie bis an das Ende ihrer Tage leer bleiben.
Elisabeth schluckte den letzten Bissen hinunter. Doch alles was Asylma sah, war ein hübsch dekoriertes Fass, vollgestopft mit verfaulten Speisen.
Vielleicht, so träumte Asylma, würde es einmal eine Zukunft geben, in der jedes Fass frei wählen konnte, wie und ob es gefüllt werden möchte und nicht der Flecken Erde entscheidet auf dem man geboren wird. Menschen unterscheiden sich nicht darin, wieviel Geld sie haben oder wieviel Macht. Sie unterscheiden sich darin auf welcher Seite der Mauer sie geboren werden und ab dann, in der Entscheidung, die sie treffen.
Asylma grinste zufrieden. Sie war lieber ein schäbiges Fass mit edlem Wein, als ein teures Fass ohne Inhalt von Wert.

Ismars Strafe

An diesem Wochenende war Monatsmarkt. Ismar mochte diese Tage, anders als bei den üblichen Wochenmärkten kamen auch Handwerker und Händ...